: Das homöopathische Kritikverfahren
Jean Starobinski über den Diskurs der Aufklärung ■ Von Volker Heins
Lassen sich aus dem Lava-Gestein der europäischen Aufklärung noch Funken schlagen? Und wer würde sich von ihnen noch in Brand setzen lassen wollen? Die jahrelangen konzertierten Anstrengungen von Zeitgeist und Sozialphilosophie lassen die „Aufklärung“ heute zweifellos ziemlich mürbe aussehen. Daß diese Ideentradition gleichwohl anders ist, als wir es sowohl von ihren Kritikern als auch von ihren Zu- Tode-Verteidigern gehört haben, zeigt das jüngste Buch des Genfer Literaturwissenschaftlers Jean Starobinski — eine symmetrisch gegliederte Essaysammlung, die einigen zentralen französischen Autoren des 18. Jahrhunderts gewidmet ist: vor allem Montesquieu, Diderot, Voltaire und Rousseau.
Der Originaltitel, Le remède dans le mal (Das Heilmittel in der Krankheit), verweist auf eine Formulierung Jean-Jacques Rousseaus und zugleich auf das Prinzip der antiken und später der homöopathischen Medizin, das dem Buch als Leitmotiv dient. Unter Homöopathie versteht man bekanntlich die Anwendung solcher Arzneien, die — in größerer Menge — bei Gesunden ähnliche Erscheinungen hervorrufen würden wie die Krankheiten, gegen die sie angewandt werden. Anstatt Gegensätzliches mit Gegensätzlichem auszutreiben („Contraria contrariis“), sei es geboten, so formulierte der aufklärerische Mediziner Samuel Hahnemann, Ähnliches durch Ähnliches zu heilen („Simila similibus curantur“). Starobinski — nicht nur Philologe, sondern auch studierter Mediziner und außerdem Lebensgefährte einer Augenärztin — sieht in dieser Logik einer Kritik, die ihre Kraft aus den kritisierten Übeln selbst bezieht, das Herz des Aufklärungs-Diskurses.
Es ist immer wieder vor allem Rousseau, der das „homöopathische“ Kritikverfahren der Politik vorführt. Hatte nicht Jean-Jacques bereits in seiner frühen Schrift Über Kunst und Wissenschaft (1750) die „schrecklichen Wirren“ beklagt, die der Buchdruck in Europa verursacht habe — um sich sogleich eben jenes Buchdrucks zu Aufklärungszwecken zu bedienen? Das Heilmittel steckt im Übel selbst, und so kommt es stets darauf an, die überlegene Kraft des Gegners diesem zu entwinden und umzukehren: Judo-Kritik. Starobinski zeigt an zahlreichen Texten die immergleiche Wirksamkeit dieser homöopathischen Metaphorik. In ihr konzentriert sich die „Grundeinsicht“ der politischen Philosophie Rousseaus.
„Je schlimmer, desto besser.“ Auch diese oft gehörte extremistische Devise, derzufolge das Übel im Augenblick seiner größten Ausbreitung in „Revolution“ umschlägt, findet sich in Rousseaus Repertoire. Eigentlich charakteristisch für diesen Denker — wie für die Aufklärung insgesamt — ist jedoch eine „reformistische“ Therapie des politischen Übels, die, wie Starobinski sympathisierend schreibt, den „Weg für eine große Versöhnung offenhält.“
Worin aber besteht das Übel? Kein Zweifel: In der „fehlenden Gegenseitigkeit“ der sozialen und politischen Organisationsweisen, ja selbst des modernen Theaters, das von Rousseau kritisiert wird, weil es eine Bühne errichtet und damit alle, die sich nicht auf dieser Bühne befinden, ins Dunkel taucht. Hier entziffert Starobinski eine weitere Variante der Regel des Heilmittels im Übel. Rousseau plädiert nämlich gegen das Theater, aber zugunsten von Bällen und Festen, weil diese das Übel des Theaters universell machen und dadurch — durch die simultane Verwandlung aller Bürger in Schauspieler/Zuschauer — heilsam sind. Das Übel des Theatralischen verschwindet, wenn es auf die Spitze getrieben wird — nicht weil es eine Revolution von außen provoziert, sondern weil es sich durch Universalisierung verwandelt. „Der Brand“, zitiert Starobinski einen römischen Dichter, „wird mit dem Feuer gelöscht.“
Am Beispiel des Candide zeigt Starobinski, daß das homöopathische Kritikverfahren auch in den Erzählungen Voltaires, des großen Gegenspielers Rousseaus, wirksam ist. Diese bitter-ironische Parabel auf die Weltblindheit philosophischer Meisterdenker zeichnet sich stilistisch dadurch aus, daß die Zusammenhanglosigkeit und Grausamkeit der Welt durch eine bestimmte sarkastische und „schneidende“ Schreibweise sekundiert und nachgeahmt wird. Die Widerlegung des philosophischen Optimismus wird auf eine gleichsam homöopathische Weise betrieben, in der die Gewalt, die Voltaire denunziert, verwandelt wiederkehrt. Der Aufklärer verbindet sich, wie Starobinski schreibt, „mit der Wildheit der Welt, um das vorgefaßte System zu widerlegen“.
Auf diese Weise nimmt sich Starobinski die Schriftsteller der Aufklärung vor, um sie in ein neues Licht zu setzen. Die Aufklärung erscheint dem seinerseits aufgeklärten Kulturwissenschaftler nicht mehr als eine totalitäre, nivellierende Denkweise; sie folgt keineswegs, wie noch Horkheimer und Adorno behauptet haben, dem Prinzip, „demzufolge die Vernunft allem Unvernünftigen bloß entgegengesetzt ist“. Die Aufklärung ist dem Übel nicht „bloß entgegengesetzt“, vielmehr schwächt sie es, indem sie sich seiner Stärke bedient: Subversion statt Krieg.
Dieses Thema wird auch in einer aufschlußreichen Eingangsstudie über die Semantik des Wortes „Zivilisation“ variiert. Das Denken der Aufklärung entzieht sich zunächst einer Dämonisierung des Nicht-Zivilisierten als „Barbarei“. Im Gegenteil: Vom Mythos des guten Wilden bis zu den jakobinisch-ästhetizistischen Motiven einer Gesellschaftserneuerung durch reinigende Gewalt zieht sich ein Faden der Apologie der „Wildheit“ durch die aufgeklärte Moderne. Das Denken der Zivilisierten über die Zivilisation schwankt ständig zwischen den Konzepten der für die „Natur“, „das Andere“ usw. bedrohlichen Zivilisation und der Zivilisation, die ihrerseits durch das Fremde bedroht wird. Starobinskis Lektüre mündet hier — wie sollte es anders sein — in ein Plädoyer für die Nutzung der selbstaufklärerischen Potentiale der modernen Gesellschaft, die auch noch die Bilder des „ganz Anderen“ unverzagt in den eigenen Reflexionsschleifen unterbringt. In Anlehnung an den Dichter Jorge Luis Borges möchte sich Starobinski darauf zurückziehen, „an die Unsicherheit der Grenzen zu erinnern und daran, daß die Bekehrung ebenso leicht möglich ist wie der Absturz. Der Gegensatz von Zivilisation und Barbarei gleicht sich aus in einer fragenden Schwebehaltung.“
Gibt es zu guter Letzt so etwas wie eine Ethik, die sich vor dem Hintergrund der über sich selbst aufgeklärten Aufklärung abzeichnet? Gewiß ergibt sich aus der Neulektüre der Aufklärung eine Kritik am Utopismus des „ganz Anderen“. Auch das Jenseits ist — so ließe sich zugespitzt formulieren — von dieser Welt. Andererseits, und das ist wichtiger, ist die Zurückweisung einer „Zivilgesellschaft“ auffällig, die sich nur noch exorzistisch auf die von ihr kritisierten Phänomene — Ökonomismus, Gewalt, „Postmoderne“ — bezieht. Die Hoffnungen, alles Fremde in der Katholizität der Zivilgesellschaft aufgehen zu lassen, sind ebenso eitel wie andere Reinheitsideale. Man muß den tanzenden Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen, um nicht zu versteinern. Die kindliche Angst vor dem Dunkel, schreibt Rousseau im 2. Buch des Emile, wird man dadurch los, daß man das Dunkle gelegentlich freiwillig aufsucht: „Seid gewiß, daß alle Gründe der Philosophie nicht soviel wie diese Übung wert sind.“
Jean Starobinski, Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung. Aus dem Französischen von H. Günther, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1990, 39,80 DM
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