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„Heiliger Georg, wir harren der letzten Ölung“

Unter dem Motto „Kein Blut für Öl“ demonstrierten am Wochenende rund 250.000 Menschen/ Allein in Berlin waren es zwischen 50.000 und 100.000 DemonstrantInnen — von DGB bis zu den Autonomen/ Größte Manifestationen seit 1983  ■ Aus Berlin Ute Scheub

Samstag 13 Uhr: Der Ku'damm quoll über von Menschen, die Leute auf den U-Bahnsteigen kamen kaum mehr auf die Straße. Zur größten Manifestation seit 1983 versammelten sich zwischen 50.000 und 100.000 Menschen — das denkbar breiteste Bündnis vom DGB- und SPD-Vorstand bis zum Plenum der autonomen Gruppen hatte geladen. Die Atmosphäre war recht locker. Familien aus Ost und West liefen zwischen Autonomen in Palästinensertüchern oder fahnenbewehten Kurden, alte Gewerkschafter und ernstgestimmte Christen marschierten neben Zwölfjährigen, die mit Vergnügen Mercedes-Sterne von Karossen am Wegesrand rupften. Besonderen Beifall erhielt das Transparent „Hussein raus aus der Hafenstraße“. Ein junger Demonstrant hielt einen „Brief“ des irakischen Diktators hoch: „Liebe Deutsche, vielen Dank für die prima Ausrüstung, bis bald, Euer Saddam“. Eine Frau wandte sich mit ihrem Plakat an den US-Präsidenten: „Oh heiliger Georg, wir harren der letzten Ölung“.

Dennoch, konfliktfrei war die Veranstaltung nicht. Bei der Auftaktkundgebung am Adenauerplatz startete ein Sprecher der Autonomen einen politischen Angriff auf die DGB- und SPD-Spitze: „Mit diesen Kollaborateuren zusammenzulaufen, ist eine Ungeheuerlichkeit“. Spätestens als der Zug beim türkischen Konsulat wendete —dort flogen einige Knaller auf Polizeibeamte—, geriet alles durcheinander. Trotzdem sahen sich die rund 1.000 Beamten der Polizei gemüßigt, die vermeintlichen schwarzen Blocks per Spalier zu begleiten. Abgesehen von einigen Rangeleien — um ein von Autonomen kassiertes Transparent „Verteidigt den Irak!“ — und zwei kaputten Bankenscheiben verlief die über vierstündige Demo friedlich. Zehn Leute wurden vorübergehend festgenommmen, darunter der Sprecher der „Kampagne gegen Wehrpflicht“, der aus Protest gegen drohende Giftgaseinsätze eine Gasmaske trug, die die Polizei als „passive Waffe“ bewertete. Zehntausende Ost-BerlinerInnen zogen am Sonntag morgen unter Friedensparolen, DDR-Flaggen und getragener Trauermusik zur Gedenkstätte für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.

Massenproteste

Die zweitgrößte Demonstration erlebte Hamburg. Dort zogen rund 30.000 Menschen friedlich über den Rathausplatz. In Bremen protestierten rund 12.000, auch in Kiel gab es eine Demonstration. In Niedersachsen fanden am Wochenende 32 Demonstrationen und Veranstaltungen mit über 40.000 TeilnehmerInnen statt, die größte davon in Hannover mit 17.000. In Oldenburg protestierten etwa 5.500 KriegsgegnerInnen, in Braunschweig, Lüneburg, Göttingen und Wolfsburg jeweils rund 2.000 und in der Buxtehuder Innenstadt 650. Das Antikriegskomitee in Bielefeld zählte mit 15.000 TeilnehmerInnen die größte Demo seit den 50er Jahren. In Münster fanden sich mehr als 10.000 Menschen zusammen, in Köln rund 15.000, im kleinen Jülich immerhin 400, in Dortmund 3.000, in Düsseldorf mehr als 8.000, auch in Gütersloh 800 und auf dem Hagener Rathausplatz 1.500. Auf dem Münsterplatz von Bonn versammelten sich 1.500 Leute, dort begannen außerdem um fünf vor zwölf Uhr Mahnwachen vor dem irakischen und dem US-Konsulat. Im Odenwaldkreis demonstrierten mehr als 400 Menschen in Mahn- und Schweigekreisen, in Darmstadt mindestens 3.000, in Wiesbaden 300 und in Trier 1.500. In Stuttgart waren rund 40.000 auf den Beinen, in Aalen über 1.000 und in Ellwangen über 100, in Heilbronn 3.000, in Freiburg 1.500, in München mehr als 10.000.

Auch in den östlichen Bundesländern erhob sich fünf vor zwölf die Friedensbewegung wie Phönix aus der Asche. Mehrere hundert Rostocker trafen sich im Stadtzentrum, und in Neubrandenburg und Potsdam wurde genauso demonstriert wie in Jena, Halle, Magdeburg, Weimar und Chemnitz. In Erfurt bildeten 3.000 KriegsgegnerInnen ein Menschenkreuz im Zentrum, Tausende zogend durch Dresden.

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