: Eine skeptische Melodie
Heute vor 200 Jahren wurde in Wien Franz Grillparzer geboren ■ Von Stephan Reimertz
Ihr eigenes Haus war den Wiener bürgerlichen Dichtern tautologisch und undurchdringlich; sie führten eine widerständige Rhetorik, die, nach großer Tradition vom sprichwörtlichen Abraham a Santa Clara bis zu Thomas Bernhard, eine Rhetorik der Ohnmacht blieb. Mit Raimunds Rappelkopf und Nestroys zerrissenem Kapitalisten von Lips bis hin zu jenem zehntausendseitigen Monolog gegen die Ungerechtigkeit der Welt, mit der eine Zeitschrift des Titels 'Die Fackel‘ ihrem Land heimleuchtete, steckte Österreichs bürgerliche Literatur, und nur von einer solchen kann im Ernst die Rede sein, zwischen wienerisch-orientalischem Fatalismus und aufklärerischem Sich-Aufraffen, zwischen apathischem Traditionalismus und radikaler Ästhetik; und nicht zuletzt auch zwischen der selbstgenügsamen Aristokratie Wiens und den dumpfen alpinen Außenständen.
„Er gehörte gern dem durch seinen Namen ausgewiesenen Bürgertum an. Plebs und Aristokratie, beide dem Geld, dem Spiel, dem Sport, dem Nationalismus, dem Erfolg und der Publizität ergeben, waren für ihn fast identisch.“ So Borges über Borges in einer schriftstellerischen Ortsbestimmung von 1974. Der um ein Jahrhundert ältere Franz Grillparzer hätte ein solches Bekenntnis nicht gegeben: es wäre ihm zu selbstverständlich gewesen. Literatur ist seit fünfhundert Jahren per definitionem bürgerlich, das zu sagen sei auch in diesem Blatt gewagt, und wo immer man seitdem gegen Feudalismus oder Totalitarismus Emanzipationen erfocht, hat sie ihren Anteil. Vehement Nestroy, der spätere Grillparzer, Hofmannsthal, Musil und Wittgenstein waren zudem Konservative im politischen Sinn; mithin fast das ganze Österreich, soweit es in der deutschen Literatur in Betracht kommt.
Wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hieß es in der 'Fackel‘, der Dichter Grillparzer sei „aus dem Bedürfnis Österreichs nach einem Klassiker“ entstanden. Solche Feststellung rechnet jedoch vor allem die Aufnahme des Autors seit Mitte des 19.Jahrhunderts und seine patriotische Umfunktionierung im Weltkrieg ab. Was wie Nachahmung norddeutscher Muster aussehen konnte oder eine Parallelaktion in Weimar, war vor allem der Versuch Wiener Dichter, sich in angenommener Hochsprache auszudrücken, ein Schreiben gegen die „anheimelnde Niederung der grausigsten Dialekte“, die keiner so scharf empfand, wie gerade der Herausgeber der 'Fackel‘. Solche Heimatsprache ist vor der Hochsprache wie die Steine im Mund des Demosthenes. Literatur entsteht, wo ihre Sprache nicht selbstverständlich ist. Und natürlich sprechen aufmerksame Ausländer besseres Deutsch als indolente Eingeborene; so wird es in einer Szene der Letzten Tage der Menschheit vorgeführt, und so erleben wir es täglich. Aus solcher Fremdheit kommt die verhältnismäßig große Anzahl österreichischer und Schweizer Autoren in der deutschen Literatur, darum auch sind die großen englischen Schriftsteller außer Shakespeare und Dickens Iren, daher die herausragende Bedeutung Dublins und Wiens im modernen Roman.
Suchen wir heute Franz Grillparzer als den Klassiker der deutschen Literatur in Österreich und betreten wir das wienerische Labyrinth durch den historischen Dienstboteneingang, so steht allzuviel im Weg, nicht zuletzt der schwierige Dichter selbst. Aber schon wer als Tourist die Alpenrepublik besucht, staunt darüber, daß dieses Land einmal eine europäische Großmacht gewesen sein soll. Womit ist es groß geworden? fragt man sich. Ist es nicht vielmehr immer Kleine Welt gewesen? Die österreichische kleine Welt mit ihrem Minderwertigkeitskomplex dem großen Bruder im Norden gegenüber konnte so deutschnational sein wie kein Deutscher, bis sie, an verblüfften Deutschen vorbei, in Berlin angekommen war. Hierin war eine andere Kompensation am Werk als die sprachliche. „Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch und Europa niemals russisch.“ Noch heute sitzen österreichische Gaukler überzählig in der Berliner Unterhaltungsindustrie.
Bald nach dem Zweiten Weltkrieg überraschte uns Österreich mit zwei weiteren Erfindungen: Erstens dem Mythos der überrumpelten und vergewaltigten Heimat und zweitens der österreichischen Literatur. Beides in Verwechslung von Ursache und Wirkung. Einige Autoren der vormaligen „Ostmark“ suchten mit verzweifeltem Witz den berüchtigten Nasal-Slang zur Schriftsprache zu erheben. Und einige deutsche Schriftsteller in Österreich empfinden sich bis heute alsösterreichische Schriftsteller. Nicht die bedeutenden, die ihr Deutsch auf deutsch schreiben und zum Teil Weltgeltung genießen, aber eine kleine Literatengruppe in sektiererischer Verteidigung ihres Stammbaums und ihres Stammtisches, deren kabarettistische Erkenntnisse dann in die noch breiteren und flacheren Niederungen des Austroschlagers durchsickern, zur neuerlichen Beschallung deutscher Hörer.
Alexander Lernet-Holenia, österreichischer als alle Berufsösterreicher von heute, sagte schon in den zwanziger Jahren: Früher hat das bei uns überhaupt kein besserer Mensch affichiert und seitdem alles schief geht, ist plötzlich jeder ein Österreicher. — Das galt in der „Republik Deutsch-Österreich“ und mehr noch bereits 120 Jahre zuvor.
Die wichtigsten Daten: 1790 Tod Josephs II. 1791 Geburt Grillparzers. 1792 Koalitionskrieg Frankreichs gegen Preußen und Österreich. 1799 Napoleon Erster Konsul. 1802 Code civil. 1803 Reichsdeputationshauptschluß: Ende des Römischen Reiches. 1804 Napoleon Kaiser; jetzt wird der deutsche Kaiser Franz II. als Franz I. Kaiser dessen, was wir heute noch unter „Österreich“ verstehen. „Die Monarchie“, in der Grillparzer heranwuchs, war geprägt von den schematischen Reformen Josephs II. und der anschließenden Mäßigung der Reformfreudigkeit unter Leopold II.
Mehr als alle Geschichtsbücher verrät die Selbstbiographie, die Franz Grillparzer Anfang der fünziger Jahre auf Veranlassung der Akademie der Wissenschaften schrieb, über die Atmosphäre jener vertrackten Zeit. Der Autor kam aus dem mittleren aufgeklärten Bürgertum und ließ erst als Siebenundzwanzigjähriger ein Theaterstück in Szene gehen: jenen noblen Spuk unter dem Titel Die Ahnfrau, der noch in der Mitte unseres Jahrhunderts zum festen Repertoire jeder Kammerheroine gehörte. Eine Schauspielerin Piscators an den Städtischen Bühnen Frankfurt konfrontierte später als Deutschlehrerin in einem Bankiersvorort ihrer Heimatstadt die verblüfften Primaner mit dem iambischen Schrecken, den die Schicksalstragödie zu bereiten sucht:
Der Dichter dieser vierhebigen Konfession blieb, nachdem er seine Erfindung in den Wirklichkeiten des Theateralltags wiedergesehen, aber nicht wiedererkannt hatte, fortan allen Aufführungen seiner Stücke fern. Im Drama Sappho und der Trilogie vom Goldenen Vlies präsentierte Grillparzer antike Vorwelt im Licht einer spezifischen Kulturmilde, die man später als österreichisch empfand. Seine Sicht der Griechen ist eine ganz eigene und mit der der Klassiker in Weimar unvergleichbar. Sie Aufnahme besonders der griechischen Antike führte auch zu seinen antilateinischen, antikatholischen Äußerungen, mit denen er sich schon als junger Mann bei Hof in üblen Ruf brachte. Die Lektüre der antiken Schriftsteller, man muß es inzwischen dazusagen, war damals und noch lange eine selbstverständliche Voraussetzung literarischer Produktion. Noch Brecht bezeichnete sich gern als „guten Lateiner“. Erst der Verzicht auf diese Bildungsbemühung führte die Autoren zur Verwechslung von Originalität und Größe und die Kritiker zum tapfer falschen Gebrauch von Fremdwörtern.
Grillparzer als Autor des 19.Jahrhunderts konnte sich noch zwanglos des weitläufigen europäischen Erbe bedienen, war aber mehr als andere, mehr als die Romantiker, von den emanzipatorischen Gedanken der Aufklärung, schließlich den Errungenschaften der josephinischen Reformen geprägt. Die drei Habsburger Historiendramen, die schlafwandlerisch sichere Hero-und- Leander-NeudichtungDes Meeres und der Liebe Wellen, das Calderòn- Remake Der Traum, ein Leben sind jedoch weit von geschäftiger Aufklärungsliteratur entfernt. Grillparzers Dichtertum stand nicht unter der Dringlichkeit sozialreformerischer Ideen. Näher steht er dem volkstümlichen Theater und der Oper, und wenn man auch sein Standbild am Portikus des neuen Burgtheaters dem Friedrich Hebbels gegenübergestellt hat, ist er dichter doch an Ferdinand Raimund und der Zauberspieltradition, weist er mit dem komödiantischen Experiment Weh dem, der lügt! auf die österreichischen Sprachphilosophen. „Überhaupt erscheint der Fortschritt meist größer, als er ist“; das Motto zu Wittgensteins Traktat könnte von Grillparzer sein, wenn es nicht von Nestroy wäre.
Dieser vollkommene Dichter war ein vollkommener Skeptizist, der neben seinen bald offiziell und offiziös werdenden Dramen auf Tagebuchblättern eine raunzende und oft sehr bedeutende Prosa schrieb. Besonders der alte Mann formulierte Einsichten und politische Beobachtungen von großer Schärfe und Illusionslosigkeit, wie später erst wieder Musil. Sein Porträt Metternichs kann neben der Analyse Rathenaus in Musils Roman stehen. In geistiger Anmut und Skeptik aber übertrifft Grillparzer diesen oft allzu männlich-ingeniös auftretenden Patron der Moderne. Musil bewundere durchaus Grillparzers Anciennität und nahm sich für den Mann ohne Eigenschaften dieSelbstbiographie zum Vorbild: „Das ist vornehmer Chronistenstil; so sollte mein Roman geschrieben sein!“ Wenn Musils heutige Jünger, jene Männer ohne Eigenschaften, deren literarische Erkennungszeichen in schwarzen Pullovern, randlosen Brillen und falschen Genitiven bestehen, etwas von den Kenntnissen und der intellektuellen Grazie älterer Schriftsteller wie Grillparzer annehmen könnten, wäre der Blick in ihre Bücher vielleicht weniger deprimierend.
In Grillparzers Lyrik, zweifellos der Schlagseite seines Werks, funkeln mitunter Perlen im Geröll. So das Poem Abschied von Wien, das schon die weltgültige Traditonslinie Platen-Mann-Koeppen berührt und dessen Wendungen sprichwörtlich geworden sind:
1843: ein Vorschein der „Wiener Jahrhundertwende“.
Die Erinnerungsblätter und besonders die Selbstbiographie sind zeitlos gültige Prosa; unter Grillparzers Zeitgenossen, bei Seume, Gutzkow, Immermann, Tieck findet sich kaum Vergleichbares. Als Höhepunkt kann die bedrückende Erzählung vom Armen Spielmann gelten, die auf den Zauber eines Fouquet und die Phantastik eines Hoffmann verzichtet und eine skeptische Melodie von höchster Eindringlichkeit findet. Zwölf Jahre hat der Autor daran gearbeitet.
Zögerlich, ja schleppend war der Gang Grillparzers durch sein Jahrhundert. Alt schon schien er auf die Welt gekommen zu sein. Sein Körperbau war leicht lepotosom, doch hart und zart. Versagungsfalten über einem vollen Mund, das Auge müde und doch aufmerksam; Haltung höflicher Reserviertheit, dabei die Hände immer bewegt.
Nach seinem Tod 1872, die Erinnerungsblätter waren noch unveröffentlicht, wurde Grillparzer zum österreichischen Staatskünstler. Die Kulturpolitik der k. und k. Administration suchte ein paar Klassikerköpfe, die sie dem soeben gegründeten Bismarckreich entgegenhalten konnte. So liegt dieses lange Leben in der historisch kurzen Zeit zwischen dem Jahrhundert Voltaires, dessen Hoffnungen in der Französischen Revolution blutig endeten, und der Epoche des Nationalismus, von der wir heute wissen, daß sie noch dauert.
Franz Grillparzer, ein deutscher Dichter in Österreich, hat seinen geschichtlichen Augenblick selbst so empfunden, und er hat sein Jahrhundert auf eine Formel gebracht, deren prophetische Qualität uns erst heute ganz klar sein kann: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“
Der Artikel rekonstruiert und aktualisiert die Einleitung zu einem Vortrag „Grillparzer e la tradizione italiana“, den der Autor beim Symposion „Itinerari italo-tedeschi“ in Rom im Mai 1989 gehalten hat.
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