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Klaustrophobie in Israel Mit „survival kit“ abschotten

Es wird gefeiert: „Das Ende der Welt“ oder ganz einfach „Abschied“  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

In Israel geht die Klaustrophobie um. Mit jedem Flugzeug, das das Land verläßt, verschwinden Menschen, mit jeder abgebrochenen Flugverbindung kommen weniger Briefe, Zeitungen, Gesprächspartner. Die Israelis sind aufgefordert, in jeder Wohnung ein Zimmer gegen einen Gaskrieg zu „versiegeln“, so daß sie sich im Falle eines Gasalarms mit Familie und „survival kit“ von der Welt abschotten können. Die meisten von ihnen besitzen inzwischen Gasmasken oder sind dabei, sie sich zu beschaffen. Ausnahme: die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Sie bleiben im Falle eines C-Waffen- Einsatzes schutzlos.

Gestern blieb das gesamte Zentrum von Tel Aviv gesperrt. Das städtische Krankenhaus übte gerade die Notevakuierung. Panikkäufe von Lebensmitteln und Plastikgütern aller Art lassen den Umsatz der Händler auf das Zehnfache des sonst in Krisensituationen üblichen hochschnellen. In den Supermärkten gibt es noch keine ernsten Verknappungen, nur längere Schlangen und mehr Nervosität. Mit der Frage „Was kauft denn der andere?“ werden Einkaufskörbe verglichen und Schlüsse auf den jeweiligen Geisteszustand gezogen.

Daß mit großem Getöse Solidaritätsdelegationen nach Israel hereinschneien, während gleichzeitig die meisten Ausländer und viele Israelis das Land verlassen, wirkt nicht gerade vertrauensfördernd. „Kondolenzbesuche“ nennt man solche Aktionen ironisch; in der Nacht zum heutigen 15. Januar sind vielerorts Feiern geplant — unter dem Motto „Das Ende der Welt“ oder ganz einfach „Abschied“. Auch die politische Klasse gibt ein seltsames Bild ab. Obwohl Israels führende Politiker sich gestern davon überzeugt zeigten, daß amerikanische Flugzeuge binnen 48 Stunden losschlagen würden, um irakische Boden-zu-Boden-Raketen zu zerstören, weigert sich Ministerpräsident Schamir, zusammen mit der Arbeiterpartei ein „Kriegskabinett“ zu bilden, wie diese angeboten hat. Stattdessen hat Schamir zugesagt, die Opposition kontinuierlich informiert zu halten.

Von offizieller Seite ist in letzter Zeit viel Widersprüchliches zu hören gewesen. Letzte Woche sagte man: „Es gibt keine Möglichkeit, Raketen abzufangen“, die von Irak nach Israel unterwegs sein könnten; diese Woche erklärte der Generalstabschef höchstpersönlich, alle feindlichen Geschosse oder Flugzeuge könnten vom Himmel geholt werden. Während der Nachrichtensprecher im Radio erzählt, „die Sicherheitsbehörden schließen einen israelischen Präventivschlag im Vorfeld des 15. Januar nicht aus“, läuft im israelischen Fernsehen eine „Instruktions-Show“ in der ein prominenter „Strategieexperte“ seinen Zuschauern — also praktisch der gesamten Nation — mit größter Autorität zu erklären sucht, warum sie in Wirklichkeit ruhig schlafen können: wegen der alliierten Streitkräfte in Saudi- Arabien sei ein irakischer Raketenangriff auf Israel völlig ausgeschlossen, alle die aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen seien im Grunde völlig überflüssig. „Führt Euer normales Leben und bleibt ruhig“, ist die Parole, mit der die Israelis solchen Unwägbarkeiten aus dem Weg gehen sollen.

Aber nicht alle bleiben ruhig. Gestern nachmittag demonstrierten isrealische Friedensgruppen vor der amerikanischen Botschaft gegen den Krieg. Eine Antikriegsbewegung namens „Movement Before the War“, die sich in der gestrigen Ausgabe der großen Tageszeitung 'Haaretz‘ mit 300 Unterschriften aus dem Universitätsbereich der Öffentlichkeit präsentierte, sollte in der Nacht zum heutigen 15. Januar für eine friedliche Lösung aller Nahostkonflikte demostrieren. Parlamentsabgeordnete der KP, von Mapam und Ratz (Bürgerrechtsbewegung) sowie der über 80jährige Professor Jesaia Leibovitz sollten dabei Reden halten. Tausende orthodoxe Juden unter Führung des Obersten Rabbinats und der in der Regierungskoalition vertretenen „Agudat Israel“ waren gestern dazu aufgerufen, sich am Nachmittag an der Klagemauer zu versammeln und für „Rettung vor denen, die sich gegen uns erheben“ zu beten. Der heutige 15. Januar ist vom Obersten Rabbinat zum „Tag der Buße“ und zum Fastentag erklärt worden.

Unter Palästinensern in den besetzten Gebieten ist die Spannung und die diffuse Besorgnis noch größer. Es schockiert und rührt, wie Flüchtlinge und Familien nach Papier- und Stoffetzen suchen, um ihre Hütten gegen Giftgas zu schützen. Die Katastrophe kommt, sie läßt sich nicht abwenden, und als Palästinenser kann man ihr nicht entfliehen.

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