: Estland: Die Angst ist vorerst gewichen
■ Die Esten beobachten die Entwicklungen im Nachbarland sehr genau
„Die Nachrichten aus Vilnius sind für uns niederschmetternd“, meint Kalju. Er war in jüngster Zeit eigentlich immer optimistisch gewesen, wenn vom Unabhängigkeitsprozeß seiner Heimat die Rede war. Tiid, ebenfalls aus Tallinn, sieht in den sowjetischen Truppen, die jeden Tag auch in seinem Heimatland eingreifen können, das größte Hindernis für eine hoffnungsvolle Entwicklung. So wie die beiden denken nach der Erstürmung des Rundfunk- und Fernsehzentrums in Vilnius viele Esten. Sie stellen abends im Gedenken an die Opfer der Gewalttätigkeiten Kerzen in die Fenster und gehen zu den Trauermeetings, zu denen die estnische Volksfront aufgerufen hat.
Wie an den Tagen zuvor, informiert auch am Montag der estnische Rundfunk in Sondersendungen über die Vorgänge in Lettland und Litauen. Rundfunk und Fernsehen hatten live über die Eröffnung der Parlamentstagung berichtet und die Rede von Präsident Arnold Rüütel übertragen, der an dem Willen des estnischen Volkes zur vollen Unabhängigkeit des Landes keinen Zweifel aufkommen ließ. Beifall gab es in dem kleinen Saal, in dem die 105 Abgeordneten des Obersten Rates tagten, als der schwedische Konsul von der tiefen Besorgnis sprach, die die Lage im Baltikum in Schweden hervorgerufen hat. Die Frage eines Abgeordneten, was Schweden und die anderen nordischen Länder für konkrete Maßnahmen ergreifen werden, konnte er allerdings nicht beantworten. Genugtuung hat in Tallinn der Besuch des russischen Präsidenten Jelzin ausgelöst, der mit seinen estnischen und lettischen Amtskollegen einen Vertrag unterzeichnete, in dem die baltischen Republiken als souveräne Staaten anerkannt werden. Landsbergis habe, so hieß es, den Vertrag ebenfalls unterzeichnet, den er per Telefax erhalten hatte.
Das sind aber auch schon alle Hoffnungsschimmer, die gegenwärtig in Tallinn auszumachen sind. Preissteigerungen hat es gegeben. Gas und Heizung wurden teurer, die Telefongebühren stiegen ums Doppelte. Das alles ist Anlaß für die Arbeiter in den Betrieben, die Moskau direkt unterstehen und hauptsächlich Russen beschäftigen, auf einer großen für Dienstag anberaumten Kundgebung den Rücktritt der Regierung zu fordern. „Wir leiden auch unter den hohen Preisen, nicht nur die Russen“, sagen die Esten. „Noch können wir uns frei bewegen“, sagt Andres. „Als ich nach der Mittagspause in den Betrieb zurückkam, wurde ich nicht kontrolliert.“
Die Angst nach den Ereignissen in Vilnius ist vorläufig gewichen. Ungewiß ist nach Meinung vieler Esten die Rolle Gorbatschows, und in Diskussionen ist davon die Rede, er sei eine Marionette der Militärs geworden. Andere befürchten sogar Schlimmeres, da er seit ein paar Tagen nicht mehr öffentlich aufgetreten ist. Selbst ihr Ministerpräsident Edgar Savisaar hatte keinen Kontakt mit Gorbatschow bekommmen. Gerüchte verbreiten sich in Windeseile und werden manchmal ziemlich ernstgenommen. „Mal sehen, was heute die Abendnachrichten des sowjetischen Fernsehens bringen“, sagt Andres. Klaus Riemann (telefonisch
zusammengetragen in Helsinki)
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