Gorbatschow: Ich habe nichts gewußt

■ Der Staatspräsident äußert sich auf der Sitzung des Obersten Sowjets, übernimmt aber nicht die Verantwortung für Panzereinsatz und Schüsse/ Innen- und Verteidigungsminister verteidigen die Militäraktion/ Boris Jelzin ruft russische Soldaten auf, nicht zu schießen

Die Ruhe ist trügerisch in Litauen. Zwar haben die sowjetischen Militärs das Parlamentsgebäude in Vilnius nicht gestürmt. Statt dessen wurde eine Kommission vom Föderationsrat der UdSSR eingesetzt. Sie hat Verhandlungen mit Präsident Landsbergis aufgenommen. Inzwischen hat die Armee eine Rundfunkrelaisstation in der Nähe der litauischen Hauptstadt gestürmt.

Nach außen bemüht man sich, in Moskau alles wie „business as usual“ aussehen zu lassen. Doch die Debatte im Obersten Sowjet der UdSSR förderte bereits eine Reihe Ungereimtheiten zutage. Präsident Gorbatschow bleibt dabei: Er will von alledem nichts gewußt und erst am Sonntag morgen vom Einsatz der Militärs erfahren haben. Weiter wollte er sich dazu nicht äußern. Das übernahmen dafür Innenminister Pugo und Verteidigungsminister Jasow, die die Gewaltanwendung beide auf ihre Weise rechtfertigten: Pugo schob die Verantwortlichkeit den litauischen Nationalisten zu, die den ersten Schuß abgegeben hätten. Die Armee habe in Notwehr gehandelt. Ein litauischer Arzt bestätigte, daß die erste Leiche tatsächlich ein sowjetischer Soldat gewesen sei. Nur steckten in seinem Rücken Kugeln aus einer Maschinenpistole, wie sie die sowjetische Armee benutzt.

Auch Jasow gab seinem Präsidenten Schützenhilfe. Demnach hat der Kommandant in Vilnius eigenmächtig gehandelt. Aus Moskau lag keine Order vor. Aber dennoch habe der örtliche Befehlshaber seine Kompetenzen nicht überschritten. Denn, so die Apologie, er habe auf Wunsch des „Rates der Nationalen Rettung“ gehandelt, der ihn gegen die „bourgeoise Führung“ in Vilnius zu Hilfe gerufen hat.

Dem General war die Absurdität seiner Erklärung anscheinend gar nicht bewußt. Welche Legitimation sollte dieses Häuflein verbliebener Kommunisten eigentlich haben, eine rechtmäßig gewählte Regierung abzusetzen? Zu alldem schwieg der Präsident. Und er muß sich nun die Frage gefallenlassen, ob er, nachdem er mit der letzten Verfassungsänderung seine nominale Macht noch einmal ausgebaut hatte, wirklich noch an der Schaltstelle der Macht sitzt? Ist dem noch so, dann hat Gorbatschow nicht die Wahrheit gesagt und baut auf das Chaos, das ihn entlasten möge.

Hätte Gorbatschow seine Macht eingebüßt, wäre natürlich auch der Verhandlungserfolg der vom Föderationsrat nach Vilnius geschickten Kommission nur auf schwachen Fundamenten gebaut. Gorbatschow bekräftigte, daß diese Kommission ausdrücklich in seinem Namen handele. Doch was hieße das dann noch? Am Sonnabend hatte der Föderationsrat noch für eine friedliche Lösung plädiert und eine Kommission aus seinen Reihen nach Vilnius geschickt. Daß sich aus diesem Gremium eine Gegenmacht zur Machtfülle des Präsidenten entwickeln könnte, ist allerdings zum jetzigen Zeitpunkt sehr fraglich. Gorbatschow hat dieses Gremium in seiner letzten Verfassungsänderung gerade als ein Organ installieren lassen, das die Interessen des Zentrums gegenüber den Republiken stärkt. Es war das Herzstück seiner Reform.

Ihm gehören ex officio alle Republikspräsidenten an und/oder die Vorsitzenden der Obersten Sowjets der Republiken. Das Gremium soll das Unmögliche schaffen: die Souveränität der Republiken wahren und gleichzeitig die Macht des Zentrums stärken. So kann der Föderationsrat auch direkt in die Angelegenheiten der gesetzgebenden Organe in den einzelnen Republiken eingreifen. Wenn Repräsentanten aus seinen Reihen jetzt in Vilnius aufrichtig um einem Kompromiß ringen, vertreten sie zunächst einmal die Interessen des Zentrums und die seines militärisch-industriellen Komplexes.

In Tallinn wandte sich gestern der russische Parlamentspräsident Boris Jelzin in einem Aufruf an die sowjetischen Soldaten im Baltikum, auch wenn befohlen, keinen Schuß auf Demonstranten und Zivilpersonen abzugeben. Er sagte weiter: „Die Führung des Landes hat unter dem Einfluß bestimmter Kräfte beschlossen, daß unsere Probleme sehr schwer auf demokratischem Wege zu lösen sind und daß man in der Tat zur ,eisernen Hand' zurückkehren muß.“ Er habe den Verdacht, daß auf Präsident Gorbatschow „sehr großer“ Druck von rechts ausgeübt wird.

Nach Ansicht Jelzins spielten sich die gegenwärtigen Ereignisse in den Ostsee-Republiken nach einem ähnlichen Szenarium ab wie seinerzeit in Tbilissi, als im April 1989 beim Einsatz sowjetischer Militärs gegen Demonstranten 20 Menschen getötet wurden. Er habe den Eindruck, meinte Jelzin, daß die Ereignisse im Baltikum den Beginn einer „machtvollen Offensive gegen die Demokratie“ darstellten, wobei die baltischen Republiken die ersten von weiteren Republiken sein würden. Deshalb unterstütze er den Aufruf der Bewegung „Demokratisches Rußland“ zu einem allgemeinen Streik.

Der russische Spitzenpolitiker nannte die Ereignisse im Baltikum einen „ernsten Schlag gegen den Abschluß des Unionsvertrages“. Er sagte: „Mit einer Schlinge um den Hals wird wohl kaum jemand aus den Republiken den Vertrag unterzeichnen.“ Klaus-Helge Donath

Moskau/adn