Die Militärintervention in Litauen:: Wer kontrolliert die sowjetische Armee?
■ Am Tag nach den Schüssen von Vilnius ist vorerst Ruhe eingekehrt in der litauischen Hauptstadt. Verantwortlich für die Intervention ist nach Ansicht aller der lokale Militärkommandant in Litauen, fraglich allerdings bleibt, ob er das militärische Eingreifen allein entschieden hat. Eine Reihe von Ländern will gegebenenfalls die Wirtschaftshilfe für Gorbatschow neu überdenken.
Nach dem dramatischen Wochenende ist am Montag in Litauen erst einmal wieder etwas Ruhe eingekehrt. Die Menschen gehen wieder ihren normalen Beschäftigungen nach. Die 14 von den Sowjetsoldaten getöteten Litauer wurden im Sportpalast aufgebahrt. In Vilnius, mit 580.000 Einwohnern die größte Stadt des Landes, wurden schwarze Tücher aus den Fenstern der Wohnungen gehängt. Während der Nacht zum Montag wurde die Ausgangssperre weitgehend ignoriert. Tausende hielten sich sogar noch nach dem Aufruf des Präsidenten Landsbergis, nach Hause zu gehen, weiter vor dem Parlamentsgebäude auf, um die sowjetischen Truppen am Sturm auf das Parlament zu hindern. Die besetzten derweil eine Rundfunkrelaisstation in Vilnius, die der Verteilung der Radiosendungen in der Republik dient. Die Angriffe auf die unabhängigen Medien gehen also weiter.
Es ist wohl dem Eingreifen der Delegation des Föderationsrates zu danken, daß wieder Ruhe einkehren konnte. Indem die Delegation sowohl mit den Militärs als auch mit Landsbergis verhandelten, haben sie den Weg zu einem Stillhalteabkommen geebnet. Doch hinter den politischen Kulissen überstürzen sich die Ereignisse. Und dabei erregt die Gemüter, wer nun wirklich an dem Schießbefehl für die Armee beteiligt war.
In einem Telefongespräch mit Gorbatschow hat Landsbergis am Montag gegen das Eingreifen der Militärs protestiert. Er soll sogar die Frage gestellt haben: „Sind Sie noch an der Macht?“ Über Gorbatschows Reaktion hat er nicht mehr verlauten lassen, als daß der Kremlchef ihm erklärte, die Delegation des Föderationsrates führe in seinem Auftrag Gespräche mit dem Ziel, friedliche Lösungen zu finden.
Vehement bestreitet der aus Lettland stammende russische Innenminister Boris Pugo eine Verwicklung Gorbatschows. Der Innenminister erklärte sogar wörtlich: „Ich kann bestimmt sagen, daß niemand aus dem Zentrum irgendwelche Befehle gegeben hat.“ Gorbatschows Weigerung, sich am Montag vor dem sowjetischen Parlament dazu zu äußern, läßt aber Spekulationen weiterhin breiten Raum. Und da auch Verteidigungsminister Jasow jegliche Beteiligung bestritt, bleibt für viele nur der Schluß, die Führung habe die Kontrolle über die Armee verloren. Diese These wäre ja noch gravierender als die Vermutung, Gorbatschow hätte hinter dem Eingreifen der Armee gestanden, scheint sie doch den realen Machtverlust der politischen Führung gegenüber der Armee anzuzeigen. Öl aufs Feuer goß noch die Meldung, der ehemalige Außenminister Schewardnadse habe am Sonntag die Ereignisse als Vorstufe eines Militärputsches gewertet.
Schewardnadse hat diese Aussage inzwischen bestritten. Und die von Pugo ausgestreute Version der Militäraktion soll beweisen, daß die lokalen Militärs eigenmächtig handelten, es sich keinesfalls um eine landesweit koordinierte Aktion der Militärs handele. Dieser Version zufolge hatten sich am Sonnabend Vertreter des „Komitees der Nationalen Rettung Litauens“ zum Obersten Sowjet Litauens, also zum Parlament, begeben, um Verhandlungen mit der Führung der Republik aufzunehmen. Dort seien sie jedoch überaus feindselig empfangen und sogar verprügelt worden. 28 Mitglieder der Delegation hätten dabei schwere Verletzungen erlitten und in ein Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Ein anderer Teil der Abgesandten dieses Komitees habe sich daraufhin zum Rundfunk- und Fernsehzentrum aufgemacht, um über die Sender ihre Forderungen zu veröffentlichen. Doch dort sei ihnen der Zutritt von Dutzenden bewaffneten Anhängern der Sajudis-Bewegung verwehrt worden. Und jetzt der Clou: Angesichts dieser Bedingungen hätten Vertreter des Komitees die sowjetischen Militärs um Hilfe ersucht.
Diese Darstellung wurde natürlich sofort von litauischer Seite zurückgewiesen und für abwegig erklärt. Und tatsächlich läßt dieser Ruf nach dem Militär deutliche Parallelen zu Ereignissen der Vergangenheit erkennen. Auch 1968 in Prag wurde der Hilferuf an die Rote Armee „moralisch“ gerechtfertigt. Selbst angesichts der Tatsache, daß die russische Einwanderungsbevölkerung in Litauen in den letzten Jahren über vielerlei Diskriminierungen zu klagen hatte, ist diese Darstellung eher für etwas anderes entlarvend: Das „Komitee zur Nationalen Rettung“ vertritt ja keineswegs das Gesamtinteresse des russischen Bevölkerungsteils. Es ist zusammengesetzt aus dort stationierten Militärs und Führungskadern der moskautreuen Kommunistischen Partei. Es ist also naheliegend, es als Instrument anzusehen, das für Provokationen bestens geeignet ist.
Die Frage ist weiterhin, ob es sich um eine lokale Angelegenheit oder eine sowjetunionweite handelt. Am Montag hat sich in Riga ebenfalls ein „Gesamtlettisches Komitee für die gesellschaftliche Rettung“ formiert und ist mit Forderungen an die Öffentlichkeit getreten, die denen in Litauen ähneln. Und auch das erste Angriffsziel, nämlich die unabhängigen Presseorgane, der Rundfunk und das Fernsehen, entspricht dem Vorgang in Vilnius. Da auch in Rußland zunehmend unabhängige Informationsquellen unter Druck geraten — so wurde am Freitag sowohl die Presseagentur 'Interfax‘ vorübergehend eingestellt und im mittelrussischen Kaluga der Chefradakteur der Lokalzeitung 'Snamja‘ ermordet — ist aller gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz eine Gesamtentwicklung sichtbar. Ob es sich aber um eine vom Zentrum generalstabsmäßig geplante Aktion handelt, ist noch unklar. Erich Rathfelder
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