Berlins Litauer organisieren sich

■ Litauer Bürger in Berlin organisieren Mahnwachen vor dem UdSSR-Konsulat und gründeten das Komitee »Freies Baltikum«

Berlin. Die wenigen Litauer in der Stadt sind seit Sonntag bei den täglichen Mahnwachen vor der sowjetischen Botschaft Unter den Linden zu finden. Die meisten von ihnen haben sich erst durch ihren gemeinsamen Protest gegen die Besetzung von Vilnius kennengelernt, denn eine litauische Gruppe gibt es in West-Berlin seit den frühen achtziger Jahren nicht mehr. Auch in Ost-Berlin gibt es keinen gemeinsamen Treffpunkt, denn vor der Wende haben sich die Familien nicht getraut, als Litauer aufzufallen. In Westdeutschland sieht die Lage nicht so desolat aus. Dort gibt es in München, Memmingen und Düsseldorf je eine kleine litauische Community, und in der Nähe von Mannheim existiert gar das einzige litauische Gymnasium in Europa.

Viele Litauer aus Ost und West hoffen, daß sich dieser Zustand von Vereinzelung bald ändert. Fast alle Berliner Litauer arbeiten jetzt gemeinsam in dem jetzt gegründeten Komitee »Freies Baltikum«. In den Sprecherrat wurde der in Ost-Berlin lebende Psychologe Remigijus Bistritskas und die in West-Berlin lebende Sozialarbeiterin Jurate Dindas gewählt. Die deutschen Sprecher des Komitees sind der Westberliner Dozent Michael Heidbreder und der Ostberliner Pfarrer Erhart Neubert vom Bund der Evangelischen Kirchen. Die taz sprach mit Jurate Dindas und Erhart Neubert über die Mahnwachen und die zukünftigen Aufgaben dieses Komitees.

taz. Sie sind eine der Mahnwacheninitiatorinnen. Was war der Auslöser?

Jurate Dindas. In der Nacht zum Sonntag habe ich die Nachrichten über den Sturm auf das Rundfunkgebäude in Vilnius gehört und über die vielen Toten dort. Ich war völlig verzweifelt und mußte etwas tun, zur Not auch ganz alleine. Es leben nicht viele Litauer in Berlin, und die wenigsten kennen sich untereinander. Im Westteil der Stadt leben etwa zehn litauische Familien, und im Ostteil sind es vielleicht 15 Familien. Wen ich kannte, habe ich angerufen, auch deutsche Freunde, und wir haben beschlossen, uns am Sonntag vormittag vor der sowjetischen Botschaft Unter den Linden zu treffen. Der litauische Künstler Algis Svegzda hat sich sofort bereit erklärt, einen Linolschnitt Freiheit für Litauen zu machen. Dieses Plakat mit dem Heiligen St. Georg auf dem Drachen ist für uns eine Art Erkennungszeichen. So begannen die Mahnwachen Unter den Linden. Ganz spontan.

Erhart Neubert: Als meine Freunde und ich Unter den Linden vorbeigekommen sind, fuhren wir nach Hause und haben ebenfalls Plakate gemalt, um sie dazuzustellen. Als Deutsche haben wir gegenüber dem Baltikum eine besondere Verpflichtung, denn ohne den Stalin- Hitler-Pakt wäre die jetzige gefährliche Lage in Litauen, aber auch in Lettland und Estland überhaupt nicht entstanden. Unser Engagement für die Demokratisierung in den baltischen Staaten ist daher auch ein Stück Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit.

Nach den Mahnwachen trafen sich am Montag viele Menschen im Haus der Demokratie. Dort wurde ein Komitee »Freies Baltikum« gegründet. Wer ist das?

Neubert: Noch sind wir vielleicht 50 Menschen, darunter Deutsche, Litauer, ein Georgier, Russen und Menschen mit guten Beziehungen zu Lettland und Estland. Wir sind international, überparteilich und unabhängig, eine Gruppe von Bürgern für Bürger. Darüber hinaus wollen wir der Ansprechpartner für Kirchen, Bürgerrechtsbewegungen und Parteien sein, die sich für das Baltikum engagieren, ohne sich selbst damit profilieren zu wollen. Das wäre dann kein echtes Engagement. Unterstützt werden wir vom Neuen Forum und von Demokratie Jetzt.

Unter die Mahnwachen mischten sich am Montag einige »Republikaner« mit ihren Fahnen. Dürfen die mitarbeiten?

Neubert: Selbstverständlich nicht. Wir sind eine demokratische Gruppe und wollen uns nicht von Extremisten vereinnahmen lassen. Mit den »Republikanern« wollen wir nichts zu tun haben. Wir sind gewaltfrei und demokratisch. Wir möchten aber auch nicht von anderen Parteien, ob PDS, SPD oder CDU, vereinnahmt werden.

Welche Aufgaben stellt sich das Komitee?

Dindas: Wir haben eine Koordinations-, Informations- und eine Hilfsgruppe gegründet. In der Informations- oder Pressegruppe sind vor allem Menschen mit persönlichen Kontakten ins Baltikum. Neueste Informationen aus dem Land, nicht nur die aus dem Radio, sollen täglich zusammengefaßt und auf der Mahnwache verlesen werden. In der Informationsgruppe sind einige mit Kontakten zu russischen, darunter auch hier stationierten litauischen Soldaten. Sie werden Flugblätter ins Russische übersetzen und dort verteilen. Die Hilfsgruppe, von denen einige auch Beziehungen zu litauischen Ärzten haben, überlegt sich Wege für materielle oder medizinische Hilfe von Berlin aus. Wir wissen noch nicht, welche Aufgaben auf uns zukommen werden, denn wir stehen ja erst am Anfang unserer Arbeit. Einige von uns haben heute dem sowjetischen »Botschaftsrat für Information« den bei den Mahnwachen unterschriebenen Protest überreicht. Fast 600 Leute haben darin Gorbatschow aufgefordert, die Panzer zurückzuziehen. Ganz sicher ist, daß wir die Mahnwachen bis Sonntag täglich um 17 Uhr weiter fortführen.

Haben Sie Kontakte zur litauischen Nationalbewegung »Sajudis«?

Neubert: Wir haben inoffizielle Beziehungen, mehr nicht. Die Menschen in Litauen müssen selbst entscheiden, wie ihr Weg zur Demokratie und Unabhängigkeit gestaltet wird. Wir wollen nur von hier aus unterstützen, daß der Demokratisierungsprozeß nicht gestoppt wird und daß er gewaltfrei verläuft. Wir wollen auch nicht, daß im Schatten des Golfkrieges die Besetzung von Litauen einfach untergeht, wir erinnern an Ungarn 1956 und Prag 1968. Damals wurde auch im Windschatten der Suezkrise beziehungsweise des Vietnamkrieges das Völkerrecht durch die Rote Armee gebrochen. Und genau wie heute in Litauen wird die Schuld an diesen militärischen Aktionen den Menschen im Lande zugeschoben.

Dindas: Uns geht es auch um die moralische Unterstützung. Die Menschen in Litauen müssen wissen, daß sie mit ihrem Protest nicht alleine gelassen werden — und über Radio und Fernsehen erfahren sie das auch. Interview: Anita Kugler

Das Komitee »Freies Baltikum« ist täglich um 16.30 Uhr im Haus der Demokratie, Raum 306 zu erreichen. Außerdem in Ost-Berlin über Pfarrer Ehrhart Neubert, Tel.: (0372) 2810972; in West-Berlin über Michael Heidbreder, Tel.: 8811381