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Berlin am Vorabend des 16. Januar 1991

■ Auf den Flughäfen gelten schärfere Sicherheitsvorkehrungen, vor den Tankstellen stauen sich die Autos/ Auch gestern gab es zahlreiche Aktionen

Berlin. Berlin am Abend des 15. Januar 1991: Die Stadt brodelt, schweigt, schreit, verstummt wieder. Anarchisches Aufbegehren und Verzweiflung, gemischt mit voyeuristischer Erwartung, gehen Hand in Hand.

Was kann man noch tun? Wären die Metropolen plötzlich unregierbar, regte sich vielleicht etwas. Dann kämen die Regierungen unter Druck. Wer zieht die Notbremse? Zehn Menschen haben es gestern getan. Zehn U-Bahn-Züge der BVG standen plötzlich still. In einem Flugblatt erklärten Unbekannte, daß sie »die Normalität für einen kurzen Augenblick unterbrechen« und die Fahrgäste zum Nachdenken bringen wollten. Der Fahrplan war für eine halbe Stunde völlig durcheinander. Wie war das noch? »Fahrtzeit ist Denkzeit«, verheißt ein BVG-Plakat.

Alle reden darüber, alle fürchten sich, alle sind nervös. In den U-Bahnen lasen gestern Menschen, die sich vorher nie getroffen haben, gemeinsam schweigend die Tageszeitungen. Vor den Tankstellen stauten sich schon vormittags die Autoschlangen, denn die Benzinpreise stiegen wieder an. »Wird wohl noch teurer werden!« meinte ein Kadett- Fahrer zu einem Renault-Besitzer in Kreuzberg. Der nickte. Dann schwiegen auch sie.

Die Flüge nach Jerusalem seien leer, erklärte ein Lufthansa-Sprecher auf Anfrage. Die Flüge aus Jerusalem seien dagegen voll. Husseins Drohung, auf einen Angriff der Amis mit Terroraktionen in Europa zu reagieren, zeigte auch in Berlin seine Wirkung. Auf den Flughäfen Tegel und Schönefeld galten besondere Sicherheitsvorkehrungen. Elektronische Geräte wie Computer, Taschenrechner, Kassettenrecorder oder Rasierapparate sollte man jetzt lieber zu Hause lassen, sonst wird man möglicherweise nicht mitgenommen. In den Arztpraxen hockten viele Patienten mit psychosomatischen Beschwerden. Den einen schlägt der Wahnsinn auf den Magen, die anderen träumen schwer. Wieder andere wollen gar nichts wissen: »Wir schaffen das schon, da unten«, meinte ein Dahlemer Kioskbesitzer mit stolzgeschwellter Brust.

In der ganzen Stadt demonstrierten gestern Menschen gegen den Krieg. Wenigstens nicht schweigen. Wenn man schon nichts mehr tun kann, dann sollte man wenigstens noch schreien.

Am lautesten waren rund 10.000 Berliner Schülerinnen und Schüler. Die wollten das drohende Inferno nicht von ihren Schulbänken aus betrachten. Hunderte von ihnen zogen schon morgens über den Breitscheidplatz, über 2.000 demonstrierten am frühen Nachmittag vor dem US- Hauptquartier in der Clayallee. Ebenfalls an die 2.000 DemonstrantInnen zogen mit ohrenbetäubendem Geheul an der Amerika-Gedenkbibliothek vorbei. An der US-Botschaft in Ost-Berlin, wo ebenfalls an die 6.000 PennälerInnen den Verkehr der Friedrichstraße zum Erliegen brachten, lautete die Parole: »Kein Bock auf Krieg!«

Etwa 1.000 Menschen sammelten sich abends am U-Bahnhof Wedding und wanderten trotz der eisigen Kälte durch Berlins Mitte bis zum Denkmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus Unter den Linden. Viele Autonome waren darunter. Die Polizei gestattete wegen der Minustemperaturen eine Vermummung bis unterhalb der Nasenspitze. In der Kreuzberger Wrangelstraße befreiten rund 40 Menschen unter dem Motto »Nachbarn zu Gast bei Kaiser's« den gleichnamigen Supermarkt von seiner gegenwärtigen Stars-and-stripes-Reklame. In derselben Straße hatten schon vormittags Kreuzberger SchülerInnen demonstriert.

Auch im Kreuzberger Oberstufenzentrum versammelten sich mehrere hundert Jugendliche zur Diskussion in der Mensa, der Unterricht wurde unterbrochen. Überhaupt: Diesmal waren es die Schülerinnen und Schüler, die am schnellsten und eindeutigsten auf die drohende Katastrophe reagierten. Als andere noch grübelten, sortierten und analysierten, waren sie schon längst auf der Straße.

Eine Friedensinitiative unternahm in letzter Minute die Berliner FrauenfrAktion, eine Gruppe bekannter Feministinnen aus der Stadt. Sie griffen die Idee des taz-Kolumnisten Henryk M. Broder auf und drängten den Papst in einem Telefax an den Vatikan, »sofort nach Bagdad« zu fliegen, »um dort mit ihrer Präsenz die Logik der Vernichtung zu verhindern. Wir übernehmen die Kosten ihres Fluges nach Bagdad«, versprachen die Frauen. Ein anderes Frauenaktionskomitee mit Namen »Sheradzade« fand sich um 20 Uhr auf dem Breitscheidplatz ein. Die Forderung der Frauen: Verlängerung des Ultimatums um tausendundeine Nacht. CC Malzahn/Ute Scheub

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