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Vergessen und vergeben

Die beiden österreichischen Autoren Felix Mitterer und Werner Schwab: Zu den Uraufführungen ihrer jüngsten Stücke in Wien  ■ Von Dieter Bandhauer

Einem netten Bonmot Anton Kuhs zufolge läuft die Weltgeschichte genau so ab, wie sich das der kleine Moritz vorstellt. In den Direktions- und Dramaturgieetagen der Wiener Theaterhäuser scheint man sich in letzter Zeit auf die Suche nach solchen Welterklärern begeben zu haben — und ist fündig geworden.

Verfiel die Burgtheaterdramaturgie auf Rolf Hochhuth, der mit seinem Totentanz Sommer 14 ein Stück über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs schrieb, das, wie Chefdramaturg Hermann Beil stolz verkündete, auch Erklärungsmuster für den Golfkonflikt anbietet — verschaffte Otto Schenk, Direktor des Josefstädter Theaters, dem Tiroler Felix Mitterer einen Schreibauftrag, der mit einem Leseauftrag verbunden war. Und damit nahm das Unglück seinen Lauf.

Selbstbedeutung mit Zeigefinger

Kann man Mitterer — wenn es denn unbedingt sein muß — noch zugute halten, daß er nichts anderes schreiben kann als das, was das Leben ihm vorschreibt, wurde er diesmal auf Hugo von Hofmannsthals Jedermann gebracht, der ihn natürlich betroffen machte wie das Leben. Ein schlechterer Ratgeber als die Betroffenheit ist für die Lektüre dieses Stücks jedoch kaum denkbar, das in seiner Verlogenheit Bestandteil jener Lebensweise ist, die zu kritisieren es vorgibt.

In einem Bericht, wie es ihm bei seiner Arbeit am neuen Jedermann ergangen ist, erklärt uns Mitterer zwar, daß er seinen ursprünglichen Plan, an Hofmannsthals Vorlage „entlangzuschreiben, einschließlich sämtlicher seiner Figuren und ebenfalls in Reimen“, verworfen hat — doch sein jetzt vorliegender Versuch einer Fortschreibung endete in einer banalen Transferierung des Hofmannsthalschen Personals in Berufe unserer Zeit: aus dem reichen Mann wurde ein Generaldirektor, der seine Umsätze mit Waffengeschäften macht, aus der Buhlschaft seine Sekretärin usw. Der Autor entledigte sich der Auftragsarbeit wie einer Schulaufgabe, der die Direktion weder Themenverfehlung noch Abschreiben vorwerfen kann. Bei Mitterer konnte sich das Theater in der Josefstadt sicher sein, daß er das Publikum mit formalen Experimenten in Ruhe lassen würde. Eine Antwort, wie sie beispielsweise Thomas Bernhard mit seinem ersten Stück Ein Fest für Boris dem Jedermann erteilte, hätte man sich in diesem Theater ohnehin verbeten — vorausgesetzt sie wäre überhaupt verstanden worden.

Felix Mitterers Stück ist da schon aus einem einfacheren Holz geschnitzt. Es „handelt davon, was die Menschen einander antun und wie es besser ginge, wenn es die Liebe gäbe, die uns dorthin führen würde, wo unser Ziel liegt, nämlich ganz einfach (und furchtbar schwer) in der Humanität“. So reckt sich Mitterers Zeigefinger, der dem Hofmannsthalschen Text bemüht genug entlangstreicht, immer wieder mahnend empor, um letztlich gnädig auf sich selbst zu deuten: Der Autor ist „Gott und Richter“, und in dieser Funktion verdammt er Jedermann nicht endgültig, obwohl ursprünglich beabsichtigt.

Mitterers Ratschlüsse sind nicht unerforschlich, sondern bei Hofmannsthal nachzulesen. Und was von einem solchen Gnadenakt zu halten ist, steht wiederum bei Alfred Polgar, der 1914 anmerkte, daß Jedermann „das erhabene Zeremoniell seines Absterbens seiner sozialen Stellung danke“.

Mitterers innovatorischer Ansatz, nämlich Menschen statt Allegorien zu schaffen, schlug ebenfalls fehl. Auf die Bühne gerieten Klischeebilder, vor denen es jeden noch so teuflischen Waffenhändler in Schutz zu nehmen gilt. Abgesehen davon, daß es mittlerweile derart zum guten Ton an den besserten Wiener Theaterhäusern gehört, Waffengeschäfte betreibende Politiker und Manager zu kritisieren, daß man sich nach einem Propagandastück der Rüstungsindustrie sehnt, welches dann ganz bestimmt nicht — wie die Josefstädter Aufführung — von einem multinationalen Ölkonzern gesponsert wird.

Bemerkungen zur Regie Erwin Steinhauers und zu den Leistungen der Schauspieler zu machen hieße, dem Stück eine Bedeutung zukommen zu lassen, die es nicht verdient. Jedenfalls waren die Beteiligten (allen voran Helmut Lohner als Generaldirektor Jedermann) mit Ernst bei der Sache, wie es sich ziemt, um das Ziel — Humanität — zu erreichen. Daß das Theater bei diesem Vorhaben eher hinderlich ist, kann bei Mitterers Vorlage jedoch kein Argument sein.

Einverleibt, was fremd ist

Während Felix Mitterer mit seinem Menschlichkeitsterror ästhetische Fragen als unzulässige Zumutung vergessen machen möchte, geht der erst 30jährige Grazer Autor Werner Schwab in die entgegegengesetzte Richtung.

In seinem zweiten Stück Übergewicht Unwichtig Unform beschränkt er die Gesprächsinhalte einer Gruppe von Wirtshausbesuchern auf die Themen Sex und Fressen. Die Reduktion der Stammtischgespräche einerseits, die Zuspitzung ihres Jargons ins Gespreizte und Primitive andererseits verschaffen den Figuren ein Eigenleben, das jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit ausschließt. So können in dieser Groteske aus der österreichischen Provinz Schwabs Stammgäste — nachdem ihnen die Sprache des Autors förmlich über den Kopf gewachsen ist — auch derart außer sich geraten, daß sie ein schickes, einander verliebt in die Augen blickendes Paar auffressen.

Einverleibt wird, was einem fremd ist; was einverleibt wurde, muß verdaut werden, um ausgeschieden werden zu können. In einem moralischen Reinigungsakt beginnen die Wirtshausbesucher Herta, die einzige, die sich an diesem Abendmahl nicht beteiligt hatte, in der Form des Marienkults zu verehren.

Im dritten Teil des Stückes ist dann alles vergessen und vergeben. Das schöne Paar sitzt wieder an seinem Tisch, bestellt an diesem für sie exotischen Ort in einem Akt präpotenter Überanpassung Hausmannskost und kommt mit den Leuten ins Gespräch.

Kein versöhnliches Ende, aber doch eine befremdliche Rücknahme der Ungeheuerlichkeiten der ersten beiden Akte. Schwabs Figuren — Kunstfiguren, die ihre soziale Herkunft immer wieder verraten haben — bekommen in dieser Phase zuviel Geschichte. Was vorher präzise unklar blieb, wird jetzt benannt und damit entschärft und unscharf. Doch diese Form der Überselbstinterpretation kündigte sich bereits im Akt der Marienverehrung an, als Herta scheinbar zusammenhangslos den Titel des Stückes stammelte und damit erklärte.

Hans Gratzer und ein den sprachlichen Anforderungen des Stückes gerecht werdendes Ensemble lotete den Realismus von Übergewicht Unwichtig Unform aus, was eine, aber nicht die ganze Wahrheit von Schwabs europäischem Abendmahl deutlich machte. Erni Mangold als Wirtin sprach und tat nur das Notwendigste — und beherrschte alle: die Gäste und die Schauspieler.

Felix Mitterer: Ein Jedermann. Regie: Erwin Steinhauer. Bühne: Heinz Hauser. Mit Helmut Lohner, Bernhard Schier, Jutta Speidel, Wilma Degischer. Theater in der Josefstadt.

Werner Schwab: Übergewicht Unwichtig Uniform. Regie: Hans Gratzer. Bühne: Christoph Speich. Mit Erni Mangold und Vera Borek. Das Schauspielhaus Wien. Vorstellungen en suite.

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