: Anarchistische Rasselbande
■ „Die kleinen Strolche“ ganz groß im Kino
Es gibt doch immer wieder Überraschungen. Zum Beispiel Farina. Der freche, drahtlockige Bengel mit den viel zu großen Schuhen, den ich 25 Jahre lang für ein Mädchen gehalten hatte, ist in Wirklichkeit ein Junge. Ein gewisser Allen Clayton Hoskins jr., 1920 in Boston geboren, hat in 105 Folgen der Kleinen Strolche die Rolle der Farina gespielt. Womit einmal mehr bewiesen wäre, daß Film nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Ansonsten ist alles wie früher: Der sommersprossige Mickey, Mary, die kindliche Lady und der dicke Joey heißen auch im richtigen Leben so, der dressierte Hund hat tatsächlich geschminkte Augenbrauen, die Pianobegleitung klingt blechern, und der betuliche Kommentar ist heute so überflüssig wie damals.
Damals, das war in den 60er Jahren, als mein Vater unser erstes Fernsehgerät angeschafft hatte, einen Loewe Opta, schwarzweiß, auf Raten. Seitdem war Sonntag nachmittags immer ZDF-Kinderstunde angesagt: erst Zebulons Zauberkarussell und danach („Hipp, hipp, hurra...“) Die kleinen Stolche, eine Serie, die zu jener Zeit eigentlich schon reichlich altmodisch war. Die Slapstickepisoden rund um eine rotzfreche Kinderbande im Amerika der 20er Jahre waren stumm und nur zwölf Minuten kurz.
Gedreht wurden die insgesamt 220 Folgen der Miniserie zwischen 1922 und 1944 in den amerikanischen Hal Roach Studios, dort wo auch Harold Lloyd filmtechnisch das Licht der Welt erblickte und später die Laurel & Hardy-Filme gedreht wurden. Wie ihre berühmten Pendants erleben auch die kleinen Strolche jede Menge haarsträubender Abenteuer mit explodierenden Geburtstagstorten, betrunkenen Hunden und finsteren Gangstern. Blöde Erwachsene werden regelmäßig ausgetrickst. Den aufgebrachten Farmer, den Farina beklaut hat, erledigt sie mit gezielten Wassermelonenwürfen. Wer sich beim Seifenkistenrennen in den Weg stellt, wird gnadenlos über den Haufen gerast. Und in der nächsten Folge sind alle wieder da. Das sind die Abenteuer, die wir, wenn wir sie schon nicht selbst erleben konnten, wenigstens im Fernsehen sehen wollten.
Aber wie das so ist im richtigen Leben: Das Schlechte triumphiert meist über das Gute. Anfang der 70er Jahre verschwanden die Strolche aus dem Programm. Das Sandmännchen blieb, worauf uns jugendlichen TV- Glotzern nichts anderes übrig blieb, als erwachsen zu werden. Denn die Kinderserien, die nun folgen sollten — Sesamstraße, Das feuerrote Spielmobil und wie sie alle heißen — mochten zwar pädagogisch wertvoller sein als Die kleinen Strolche, zum Lachen waren sie jedenfalls nicht. Heute sind mir Kinder als Hauptdarsteller ein Greuel. Entweder nerven sie als Miniaturerwachsene mit ihrem altklugen Geschwätz, oder die Dialoge, die die Autoren ihnen in den Mund legen, sind grenzenlos naiv. Wollen sie auf der Leinwand komisch sein, wirkt das meist unglaublich peinlich.
Die kleinen Strolche haben niemals gesprochen. Dafür konnten sie wunderbar schauspielern. Seien es nun Farinas kullernde Augen, wenn sie zum Entsetzen ihrer Freunde mal wieder ein Stinktier anschleppt oder Joeys Kampf mit den Austern auf seinem Teller — die stumme Slapstickserie sprüht nur so vor anarchistischem Witz. Der Berliner Filmverleih „Mega-Film“ hat die alte Kinderserie nun aus den Archiven ausgegraben und sieben der besten Episoden zu einem 85minütigen Spielfilm zusammengebaut. Ton und Bilder sind original so wie damals im ZDF, aufgeblasen auf 35-mm-Format — ein Aufwand, der sich angesichts der liebevoll-unperfekten 20er-Jahre-Dekoration und der kontrastreichen Schwarzweißbilder gelohnt hat. Ganz wunderbar zum Beispiel die Film-im-Film-im-Film- Episode über den Besuch der Kinderbande in Hollywoods Filmstudios, bei der außer den obligatorischen Verfolgungsjagden und Tortenschlachten auch ganz nebenbei die Entdeckung der „entfesselten Kamera“ und der Doppelbelichtung neu interpretiert wird.
Cineasten werden so manches filmhistorisch interessante Detail entdecken, ebenso wie beflissene Pädagogen im nachhinein Vokabeln wie multikulturell bis gruppendynamisch-kreativ bemühen können, ohne daß es dem Film noch schaden könnte. So konfliktreich und dabei doch hundert Prozent unblutig taugen Die kleinen Strolche sogar für Waldorfschulen — die Großen dürfen sich noch einmal schmunzelnd zurückerinnern, und die Kleinen werden erkennen, daß ihre Eltern nicht immer so dröge waren. Ute Thon
Robert F. McGowan: Die kleinen Strolche , mit Micky Daniels, Mary Kornman, Joe Cobb, Jackie Condon, Allen „Farina“ Hoskins, USA 1922-28, 85 Min.
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