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Versuche am äußersten Rand

Die deutsche Presse 1933-1939 im europäischen Exil  ■ Von Maria Kühn-Ludewig

Ein Mann liest Zeitung. So nannte der Hamburger Journalist und Schriftsteller Justin Steinfeld (1886-1970), im Prager Exil von 1933 bis 1938, bezeichnenderweise seinen ersten und einzigen Roman, der so unmittelbar in den „Wartesaal des Exils“ einführt, wie wenige Bücher aus dieser Zeit (1984 im Neuen Malik Verlag, Kiel). Tatsächlich waren viele EmigrantInnen dringend darauf angewiesen, daß die ebenfalls emigrierten oder im Exil neugegründeten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften ihnen die fremd gerwordene Welt erschlossen. Zumeist arbeitslos, widmeten sie ihre Zeit der intensiven Lektüre dieser Blätter, sei es, um Anzeigen zu studieren, sei es, um vom neuen Standort aus sich über die Weltlage zu informieren, oder auch nur, um die eigene Lage, Hunger und Heimweh zu vergessen. Die langen Stunden in einem Prager oder Pariser Café, in einem Emigranten-Club oder auf einer Parkbank vergingen leichter, wenn zum Preis von etwa einem Espresso auch ein scharfsinniger Leitartikel oder ein guter Fortsetzungsroman in vertrauter Sprache zu haben war: Feuilletonbeiträge stimmten rückbesinnlich, Nachrichten aus Deutschland schockierten, politische Analysen lenkten schließlich des Interesse auf eine „Welt nach Hitler“, auf eine Zukunft, von der auch persönlich alles abhing.

JournalistInnen und VertreterInnen anderer „schreibender Berufe“, die zu den Hitler-Flüchtlingen der ersten Stunde gehörten, ermöglichten ihren MitemigrantInnen solche Lektüreerlebnisse und schufen zudem mit ihrer regen Publizistik ein das Exil überdauerndes Dokument. Aus den zwölf Jahren bis 1945 wurden bisher etwa 430 Exilperiodika nachgewiesen. Sie richteten sich in erster Linie an die insgesamt etwa 500.000 in Europa, dann weltweit verstreuten EmigrantInnen, zum Teil auch an LeserInnen illegaler Presse in Deutschland oder an Auslandsdeutsche, nur selten an die ausländische Öffentlichkeit der Exilländer.

Diese Vielfalt wird jetzt durchschaubar dank der neuen, lange erwarteten Veröffentlichung der Frankfurter Pressehistorikerin Lieselotte Maas. Die Autorin hat von 1976 bis 1981 im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft bereits drei Bände ihres Handbuchs der deutschen Exilpresse 1933-1945 (bei Hanser, inzwischen vergriffen) vorgelegt, die die bibliographisch akribische Beschreibung der mehr als 400 Publikationen, Verzeichnisse sämtlicher AutorInnen, Standorthinweise und Register enthalten; eine längst unverzichtbar gewordene Forschungsgrundlage (wo bleibt die Neuauflage?). Jetzt folgt Band 4 mit dem ersten Teil der Zeitungs-„Porträts“ für die Vorkriegszeit 1933 bis 1939; Band 5 wird die außereuropäischen Publikationen der Jahre 1940 bis 1945 darstellen und damit das Handbuch (circa 1992) abschließen. Zweifellos steht Band 4 im Hinblick auf Autorin, Verlag und Aufmachung in der Kontinutität seiner Vorgänger. Der Preis allerdings ist erheblich gestiegen und der Hinweis auf öffentliche Förderung des Werkes im neuen Band nicht (mehr) zu finden. Sind Entstehung und Verbreitung ausgerechnet von grundlegenden Werken wie dem vorliegenden Handbuch oder auch Hans-Albert Walters mehrbändiger Literaturgeschichte des Exils (bei Metzler, drei Bände) nicht förderungswürdig? Warum?

Zurück zum Journalismus im Exil: Ihm ging es vor allem um die Propagierung antifaschistischer Politik in ihren verschiedenen Nuancen, wohl auch um die Hoffnung auf eine bescheidene Existenzgrundlage, aber Gewinne waren mit solchen Inhalten selten zu machen, selbst eine Plus-minus-Null-Kalkulation wie die folgende ging nicht immer auf: „Eine Auflage von 1.000 Exemplaren (mit der wir beginnen wollen) kostet Druck- und Versankosten zusammengerechnet 1.200 franz. Frs. (sonstige Unkosten gibt es nicht, weil Redaktion und Administration unbezahlt bleiben). Wenn von diesen 1.000 Exemplarehn 600 verkauft werden und zwar zu einem Durchschnittspreis von 2 Frs. pro Stück (...), dann werden Ausgaben und Einnahmen sich aufheben.“ (S.39f.) So das trotzkistisch-oppositionelle 'Freie Wort‘, das 1938 in Paris genau einmal erschien.

Das Anzeigengeschäft war in der Regel sehr beschränkt, die Leserschaft nicht gerade kaufkräftig und infolge der politischen Entwicklung in Europa schrumpfend. Für kaum zwanzig Prozent der Titel lassen sich überhaupt noch Auflagenzahlen, wie zweifelhaft auch immer, ermitteln: „Mehr noch als bei den Angaben zu Erscheinungsort, Verlag und Redaktion durchkreuzen sich hier Fiktion, Täuschung und Wirklichkeit auf oft nur schwer zu entwirrende Weise, erst recht wenn man versucht, zwischen gedruckter, verkaufter oder gar gelesener Auflage zu unterscheiden. Denn die einen wollten mehr scheinen als sie in Wirklichkeit waren, andere waren gewichtiger als es den Anschein hatte.“ (S.41) Meist wird die Auflage bei einigen 1.000 Exemplaren gelesen und nur selten mehr als 10.000 erreicht haben: maximal 14.000 war die Tagesauflage des 'Pariser Tageblatt‘, der „wohl meistgelesenen Exilzeitung“ (H.-A.Walter) der Vorkriegsjahre.

Aus den bibliographischen Angaben der beiden ersten Handbuch- Bände hat der Exilforscher Hans-Albert Walter einige charakteristische Daten gewonnen (Walter: Exilpresse, 1978, S.9-14): z.B. wurden nur 45 Prozent der Publikationen im Druckverfahren hergestellt, 50 Prozent dagegen maschinenschriftlich vervielfältigt oder hektographiert. Knapp 50 Prozent der Blätter erschienen ein Jahr lang oder kürzer, nur circa 20 Prozent länger als drei Jahre. 1938, das Jahr der Annexion Österreichs (März) und des Sudentenlandes (Oktober), bedeutete auch publizistisch eine „Wende“, nämlich erstmals mehr Einstellungen (40 Titel) als neue Zeitschriften (27). Während z.B. 1933 von 60 neuen Titeln 23 sich nicht halten konnten und 1934 48 Neugründungen 17 Einstellungen gegenüberstaden, überwogen 1938 bis 1945 Jahr für Jahr die Abgänge. Daraus ergibt sich im Durchschnitt für die Vorkriegsjahre ein ständiges, wechselnd zusammengesetztes Angebot von circa 80 Titeln.

Der „Kurzlebigkeit“ entspricht die meist unregelmäßige Nummernfolge in großen Zeitabständen; keine Frage der Konzeption sondern der ökonomischen Zwänge. Ausnahmen sind die beiden Tageszeitungen, die es vor 1939 gab: 1933 bis 1940 die 'Deutsche Freiheit‘ (SPD) in Saarbrücken und 1933 bis 1940 das 'Pariser Tageblatt‘ (ab 1936: 'Tageszeitung‘); 'Die Zeitung‘ (London 1941 bis 1945) erschien nur im ersten Jahrgang eine Zeitlang täglich. Auch diese Blätter hatten wirtschaftlich keinen leichten Stand (Klagebriefe von AutorInnen über zu geringe oder ganz unterbliebene Honorarzahlungen füllen Archivregale), aber 33 publizistische Versuche kamen nicht einmal über eine erste Nummer hinaus, 55 erschienen wöchentlich (z.B. 'Das Neue Tage-Buch‘ und 'Die neue Weltbühne‘), 23 vierzehntägig, 86 monatlich (z.B. 'Die Sammlung‘ und 'Neue Deutsche Blätter‘) und 135, der größte Teil also, unregelmäßig. Soweit die Statistik, die selbst in ihrer Abstraktheit etwas von den Problemen der Exilpresse erkennen läßt.

Ihrem inhaltlichen Charakter nach sind etwa drei Viertel der Exiltitel der Partei- und Gewerkschaftspresse von links bis rechts in vielerlei Formen (Zeitungen, Zeitschriften, Mittelungsblätter, Informationsdienste) zuzurechnen, davon wiederum der größte Teil der KPD und ihrem Umfeld. Vom Kommunisten Münzenberg bis zum Nationalsozialisten Strasser betätigten sich Weimarer Prominente im Exil nicht selten als Herausgeber oder Redakteure (darunter — laut Handbuch-Register in Band 4 — kaum Frauen) und konnten in dieser Eigenschaft manch alte Diskussion fortsetzen. Weltanschauliche Publikationen (darunter zwölf jüdische), literarische, kulturelle und wissenschaftliche Zeitschriften spielen zahlenmäßig neben der parteigebundenen Presse nur eine kleine Rolle, während sie nach 1945 wesentlich stärker rezipiert wurden als ihre parteipolitische Konkurrenz. Tageszeitung und Literaturzeitschrift waren im Exil die publizistischen Ausnahmen im Vergleich zur Menge der diversen Mitteilungsblätter, die sich ohne Expansionsabsichten als theoretische oder praktische Orientierungshilfe an den oft kleinen Kreis (politisch) Gleichgesinnter wandten. Aus diesen Blättern lassen sich, wie Lieselotte Maas' Darstellungen zeigen, die Interessenvielfalt und politische Heterogenität des Exils bestens dokumentieren.

Nicht, daß es an einem Minimalkonsens gefehlt hätte: Opposition gegen Hitler war zentrales Thema und Anliegen der gesamten Exilpresse; es galt, in Deutschland den Widerstand zu stärken und im Ausland über Hitler aufzuklären. Aber das ergab keine ausreichende Gemeinsamkeit für ein Büdnnis der noch kurz zuvor und bis in die Mitte der dreißiger Jahre hinein zerstrittenen Linken, die das politische Exil prägte. Prüfsteine, an denen sich die Geister schieden, waren z.B. die Frage nach der Schuld (bzw. nach den Schuldigen) an Hitlers Machtergreifung, das Projekt einer Einheitsfront (KPD/ SPD) bzw. einer breiteren Volksfront, sowie die Vorstellungen eines künftigen Deutschland.

Auf solche Brennpunkte der damaligen Diskussionen konzentriert die Autorin die meisten der 230 „Porträts“, belegt aus Leitartikeln und Editorials die Positionen jeder Publikation, so daß sich überraschende Vergleichslinien und thematische Querschnitte abzeichnen. Es gelingt ihr, auf 500 Seiten das erdrückend umfangreiche Material nicht in abstrakte Lexikonartikel zu pressen, sondern es in Zitaten zum Sprechen zu bringen. So werden oft qualvolle, manchmal belustigende Auseinandersetzungen vor allem unter Linken auch in ihren heute meist vergessenen Positionen lebendig. Das allein bewegt dazu, das Handbuch nicht nur als Nachschlagewerk zu benutzen, sondern es zu lesen. Wer vermutet schon hinter einem Titel wie 'Die Schiffahrt‘ (Antwerpen 1934-39) Anarcho-Syndikalistisches? Oder unter dem Titel 'Europa‘ (Paris 1935-1936) die Begegnung mit einem Altpazifisten wie Friedrich Wilhelm Foerster, den der Militarismus von 1914 schon 1922 endgültig ins Exil trieb? Oder die entgegengesetzte Botschaft eines republikanischen Generals aus dem spanischen Bürgerkrieg, Julius Deutsch: „Das Studium des Krieges und der Kriegsausrüstung kann nicht länger den Reaktionären überlassen bleiben“, so 1938 in der Zeitschrift 'Krieg und Frieden‘ (erschienen in Münzenbergs Verlag „Sebastian Brant“)?

Auch wenn es schwerfällt, der Autorin in allen Bewertungen des „Scheiterns“ oder „Erfolgs“ publizistischer Ambitionen zu folgen: die Stärke des Bandes liegt in der breiten Präsentation der vielen kleinen und kleinsten Blätter („Versuche am Rande“), die neben den prominent gewordenen und vielfach gewürdigten hier zu Recht ihren Platz haben. Markante Thesen zum Exiljournalismus in der Einleitung, Reproduktionen einiger sprechender Zeitungsseiten und informative Vorbemerkungen zu den einzelnen Kapiteln ergänzen die Zeitungs-„Porträts“, die — ungeachtet ihrer hier nicht verhandelten Besonderheiten — zusammengenommen eine Art Mikrokosmos des politischen Exils schaffen. Sie führen Argumentationen zusammen, die so damals kaum in direkte Kommunikation eingehen konnten wegen der politischen Differenzen, die aber im historischen Rückblick allesamt die Epoche charakterisieren; eine dringende Einladung, solchen Spuren der vielleicht doch schreibend Handelnden nachzugehen.

Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945. Band 1: Bibiographie A-K. 1976 (vergriffen). Band 2: Bibliographie L-Z. 1978 (vergriffen). Band 3: Nachträge, Register, Anhang. 1981, 77 DM. Band 4: Die Zeitungen des deutschen Exils in Europa von 1933 bis 1939 in Einzeldarstellungen. 527 Seiten, 27 Abb., 128 DM (Subskriptionspreis), alle Hanser-Verlag, München

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