: Osteuropas Ausgestoßene wehren sich
Obdachlosigkeit ist offiziell noch immer ein Fremdwort/ Doch überall bilden sich Selbsthilfegruppen/ In Ungarn wurde eine „Obdachlosenpartei“ gegründet/ In den Slums von Belgrad leben 20.000 Menschen ohne Strom, Heizung und Wasser ■ Aus Budapest Roland Hofwiler
Unter dem Stichwort Obdachlosigkeit findet man in der großen Sowjet- Enzyklopädie: „Eine typische Erscheinung des Kapitalismus.“ Im Sozialismus dagegen hat laut Verfassung jedeR das Recht auf Arbeit, Wohnung und staatliche Fürsorge. Und weil es nicht geben darf, was es schon immer gab — im zaristischen Rußland, in der Stalinschen UdSSR und ganz offensichtlich unter Breschnew —, erfanden Soziologen, Richter und Politiker eigene Begriffe dafür. Vor der Ära Gorbatschow verschwanden Bettler, Clochards und Obdachlose als „kriminelle Elemente“ in Knästen und Psychiatrien oder fristeten in den Hinterhöfen trostloser Vorstadtsiedlungen ein verstecktes Dasein. Auch heute noch sind sie die Ausgestoßenen, die Randkinder der Gesellschaft.
Doch vielerorts beginnen sie sich zu wehren. In Budapest wurde sogar eine „Obdachlosenpartei“ gegründet. Von Vilnius bis Sofia, von Prag bis Kiew entstehen Selbsthilfegruppen wie die „Anonymen Obdachlosen“. Sie besetzen öffentliche Plätze und Bahnhöfe und errichten selbst wenige Meter vom einst heiligen Kreml eine Zeltstadt aus Brettern und Plastikplanen. Viele verstecken sich nicht mehr, sondern zeigen ihr Elend offen. „Noch glaubt man, wir seien lediglich ein Phänomen“, sagt Sandor Rostas, der Vorsitzende der ungarischen Obdachlosenpartei. „Aber wir werden immer mehr, mehr, mehr.“ Sein eigenes Schicksal faßt er in kurzen Worten zusammen: „Ich verkrachte mich mit meiner Frau und wir trennten uns friedlich vor dem Richter. Meiner Frau wurden die Kinder und die Wohnung zugesprochen. Wo sollte ich da hin? Seit sieben Jahren lebe ich nun schon auf der Straße.“ Laut marxistisch-leninistischer Ideologie sollte Privatbesitz an Häusern verstaatlicht werden. Er gehörte somit letztlich staatstragenden (Partei-)Organisationen. Die Genossen als Avantgarde sollten entscheiden, wieviel Wohnraum jedem einzelnen zustand. In den Fünfjahresplänen wurde festgelegt, wieviele Familien im Planzeitraum eine eigene Wohnung bekommen würden. Solange sollten sie „in alten Verhältnissen“ bei Eltern, Großeltern oder Schwiegereltern ausharren. Doch die Fünfjahrespläne konnten selten eingehalten werden. Ihre Erfüllung ging auch deshalb langsamer voran, weil diejenigen, die zuviele Kinder in die Welt setzten und somit eine größere Wohnung als vorgesehen beanspruchten, den Plangestaltern einen Strich durch die Rechnung machten. Da die Planer meist kleinbürgerliche Moralisten waren, wurden mögliche Ehescheidungen in den Plänen überhaupt nicht berücksichtigt. Was sollte man also tun, wenn aus einer Familie plötzlich zwei „Halbfamilien“ wurden? Obwohl nach offizieller Ideologie Ehebruch nicht wie im „altmodischen Kapitalismus“ geahndet werden sollte, fielen die Konsequenzen für die scheidenden Partner im Ergebnis drastischer aus: Der schuldig gesprochene Partner mußte auf jeglichen Besitz verzichten. Männern riet man meist, doch wieder zu den Eltern, Großeltern oder Geschwistern zurückzukehren. Ein Rat, den man gar Rentnern mit auf den Weg gab. Homosexuelle gingen bei dieser Politik ohnehin leer aus: Wer nicht heiratete bekam nichts — alleinstehenden Menschen bot man nur in Ausnahmefällen eine Wohnung an.
Diese Ausnahmefälle ermöglichten jedoch ein Betrugsspiel, das äußerst populär war: Die Ehepartner spielten nach außen die Geschiedenen, obwohl sie sich prima verstanden. Zwar wartete man lange, hatte jedoch manchmal Glück und ergatterte für den angeblich schon lange geschiedenen Ehepartner eine neue Wohnung. Man mußte jedoch hartnäckig sein und penetrant bei den staatlichen Wohnungsämtern vorsprechen. Ein größeres „Trinkgeld“ beschleunigte das Verfahren mitunter. So hatten manche Familien zwei Wohnungen, während andere langsam auf der Straße landeten. Offizielle Zahlen über Obdachlosigkeit gibt es auch heute kaum. Nur Ungarn und Polen, Vorreiter bei allen Reformen, machen kein Hehl mehr daraus: Etwa ein Drittel aller Bürger leben unter dem Existenzminimum, Hunderttausende nennen die Straße oder Barackensiedlungen ihr Zuhause. Slums machen sich in Belgrad und Kiew breit. Wieviele dort wohnen, weiß niemand genau. In der „Favela“, der Ausgestoßenen-Siedlung Belgrads, leben offiziell 5.000 Menschen, doch unabhängige Soziologen haben festgestellt, daß mindestens 20.000 in den Slums ohne Heizung, Strom und Wasser vor sich hin vegetieren. Die wenigsten Kinder besuchen eine Schule. Die Wissenschaftler vermuten, daß viele der Einwohner gar keine Geburtsurkunde haben. Keine Statistik, keine Renten- und Sozialversicherung erfaßt sie. Sie wurden als Namenlose geboren. Sie werden selten alt. In „Favela“ liegt die Lebenserwartung unter 45 Jahre. Ihre „Einwohner“, meist Roma, traf man früher tagsüber im Nobelviertel Dedinje an, wo sie auf der Suche nach Eßbarem von einer Mülltonne zur anderen zogen. Die Polizei lauerte den Habenichtsen immer wieder auf und steckte sie wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ hinter Gitter. Heute findet man auch in den Mülltonnen von Dedinje zu wenig, und die Zahl der Verarmten beschränkt sich längst nicht mehr auf national ausgestoßene Minderheiten. Wo Hunger herrscht, wie in weiten Teilen der Sowjetunion oder Bulgariens, bleiben nur noch die Müllhalden.
Um Armenaufstände zu verhindern, schießen in allen Metropolen Osteuropas Volks- und Armenküchen wie Pilze aus dem Boden. Aber auch das ist bürokratisch geregelt: Eintritt nur mit Gutschein. Es könnte ja ein Hungernder zweimal anstehen, so die Logik der alten Bürokraten. Obdachlosenheime oder Armenherbergen sind im osteuropäischen Sprachgebrauch noch immer unbekannte Fremdwörter. Sandor Rostas sagt resigniert: „Wer arm ist, der bleibt es auch vorerst, und wer auf die Straße fällt und nicht über den Winter kommt, der ist eben weg. Auf dem Friedhof kannst du ihn dann besuchen.“ Was kann die Obdachlosenpartei dagegensetzen? Es sei schon viel gewonnen, wenn sich diejenigen, die nichts mehr zu verlieren hätten, nicht mehr vor ihrem eigenen Elend versteckten, sondern es offen zeigten, sagt Rostas. Seine ständige Wohnadresse ist der Budapester Westbahnhof. Sein Parteibüro: die große Empfangshalle oder — falls er mal wieder festgenommen wurde — das Polizeirevier gegenüber.
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