Der Irak nach Ablauf des UN-Ultimatums
: Bagdad rechnet stündlich mit dem Angriff

■ Am Morgen des 16. Januars hielt die Bevölkerung der irakischen Hauptstadt den Atem an. Nachdem das von der UNO verhängte Ultimatum zum Abzug der irakischen Truppen aus Kuwait verstrichen ist, bereitet sich die Bevölkerung auf den Krieg vor. Opposition gegen das Saddam-Regime ist schier aussichtslos.

Bagdad, 15. Januar, wenige Minuten vor Mitternacht. Nur wenige hier in der irakischen Hauptstadt wissen, daß für George Bush die Zeit nach der New Yorker Uhr läuft, das UN-Ultimatum folglich am nächsten Morgen um acht Uhr abläuft. Ein irakischer Offizier vor meinem Hotel gibt sich selbstbewußt: „Nein“, sagt er, „wir akzeptieren diese einseitige Festlegung nicht. Für uns ist das Ultimatum jetzt abgelaufen — nach irakischer Zeitrechnung.“

Für den späten Abend hatten sich zahlreiche Hotels und Bars für diesen Anlaß etwas Besonderes einfallen lassen: „Die Nacht der Herausforderung“ sollte gefeiert werden, im „Meridian“ forderten Musikgruppen zum „Tanz am 15. Januar“ auf, bekannte Schlagerinterpreten sangen „für unseren Führer“ — jedoch ohne großen Erfolg, das Publikum blieb größtenteils weg. Die meisten Kneipen und Restaurants waren bereits früh geschlossen. Entweder waren keine Gäste gekommen, oder es gingen die meisten schon früh nach Hause. „Viele Frauen haben ihren Männern gar nicht erst erlaubt, in die Stadt zu gehen. Sie sollten sich um die Familie kümmern für den Fall, daß was passiert — nach Mitternacht“, sagt Ahmed, ein Kellner, als er mein Erstaunen darüber bemerkt, daß sein Restaurant bereits um zehn Uhr die Rolläden runterzieht.

Hunderttausende gegen die Ungläubigen

Hunderttausende waren an diesem letzten Tag auf die Straße gegangen, in allen größeren Städten des Landes kam es zu Demonstrationen, organisiert von der Baath-Partei, von den Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen. Die Bevölkerung schien siegesgewiß, mit Parolen wie „Ungläubige raus aus unserem heiligen Land“ und „die Befreiung Palästinas ist der Schlüssel zur Lösung der Krise am Golf“ zogen die Menschen durch Bagdad. Auch das Militär präsentierte sich und seine Waffen — mit dem offensichtlichen Ziel, der Welt zu zeigen, daß Saddams Soldaten und das irakische Volk hinter ihrer Führung stehen und zum Krieg bereit sind.

Abgesehen von den Demonstrationen war es an diesem 15. Januar in Bagdad ruhiger als sonst. Ein Taxifahrer erzählte mit einem Lächeln, zum ersten Mal seit Jahren habe er ohne größere Aufenthalte in seiner Stadt herumfahren können. „Viele sind in ihren Autos aufs Land gefahren, zu Freunden und Verwandten, andere haben es vorgezogen, zu Hause zu bleiben.“ Trotz der Anordnung der Regierung, ohne ausdrückliche Erlaubnis der Behörden die Stadt nicht zu verlassen, hatten sich viele auf den Weg in „ihre“ Dörfer gemacht; allzu streng handhabte die Polizei die Einhaltung der Auflage also nicht.

Saddam Hussein hatte noch am Tag zuvor anläßlich eines Treffens mit irakischen Journalisten mit großem Selbstbewußtsein über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges gesprochen und dabei den Eindruck erweckt, es handele es sich hierbei um „ein Spiel mit der Großmacht USA“. Im Irak spielt die Regierungspropaganda eine große Rolle. Auf ihr gründete sich in den vergangenen fünf Monaten auch die Motivation der Armee. Mit Parolen wie „Wir werden die Amerikaner zerstören“ und „Wir werden einen klaren Sieg erringen“ war diese von Anfang an bemüht, der Bevölkerung das Selbstvertrauen einzuflößen, das sie dringend brauchte, um mit der Kriegsdrohung leben zu können. Auf der anderen Seite haben die Militärs stets versucht, die Menschen zu beruhigen mit der Versicherung, die USA würden es nicht wagen, den Irak anzugreifen, aus Angst vor der Schlagkraft der starken irakischen Armee.

„Wir wollen Frieden, wir wollen keinen Krieg“, versicherten mir zahlreiche Iraker auf den Straßen der Hauptstadt. „Aber wenn die USA diesen Krieg gegen uns beginnen, dann werden wir unser Land bis zum letzten Mann verteidigen“, sagt Saleh, mein Taxifahrer. „Gott ist großzügig. Vielleicht ist es sein Wille, daß er uns die Amerikaner schickt, um sie zu demütigen“, erklärt er. „Jeder Iraki hat ein Maschinengewehr im Schrank, für den Fall, daß sie angreifen, die Ungläubigen. Ich schwöre dir: Kein Amerikaner wird unser Land lebendig verlassen.“

Allah Akbar, „Gott ist groß.“ Immer wieder, in jedem Gespräch, wiederholt sich dieser Spruch. Präsident Saddam Hussein hat verfügt, das Allah Akbar der irakischen Fahne hinzuzufügen. Es sei ein Kampf zwischen Gottesfürchtigen und Ungläubigen, so wird mir immer wieder versichert. Die Bilder von den „blonden Amerikanerinnen in ihren kurzen Hosen, die ihre männlichen Kollegen öffentlich umarmen“, dort auf heiligem muslimischem Territorium, haben die Gefühle der Menschen hier im Irak in Wallung gebracht. Auch die offizielle Linie des irakischen Regimes, die Lösung der Golfkrise mit der der Palästinenser- Frage zu verknüpfen, wird von niemandem in Frage gestellt. Jede Opposition gar gilt als Verrat. Die Iraker sehen es geradezu als ihre Pflicht an, sich für die arabischen Ziele zu opfern. Es sind diese Gedanken und Gefühle, die ihnen offenbar die moralische Kraft verleihen, die Spannung zu ertragen — und dabei auch einen Krieg, sollte es keinen anderen Ausweg mehr geben, zu akzeptieren.

„Kommt noch jemand nach Bagdad?“

Bagdad hält in den frühen Morgenstunden des 16. Januars den Atem an. Am diesem Mittwoch sind die Flugabwehrgeschütze auf den Dächern hoher Gebäude bemannt. Die Stadt rechnet stündlich mit Luftangriffen. Die meisten Läden sind geschlossen. „Niemand will einkaufen“, sagt ein Händler und überprüft das Vorhängeschloß an seiner Ladentür ein letztes Mal. In den Straßen patrouillieren bewaffnete Milizionäre. In den Schulen gehen auf Anordnung der Regierung hin die Abschlußprüfungen weiter. „Kommt noch jemand nach Bagdad, um den Krieg abzuwenden?“, fragt ein Angestellter meines Hotels.

Ein Milizionär klettert auf seinen Jeep und wiederholt, was in den vergangenen Tagen immer wieder auf den Straßen, im Rundfunk und in den Zeitungen zu hören und zu lesen war: „Die Amerikaner kennen uns nicht. Das wird kein Spaziergang für sie.“ Radio Bagdad bringt ein Literaturprogramm. Eine Sprecherin leitet die Sendung mit den Worten ein: „Wenn ein Volk glaubt, daß Sklaverei und Unterdrückung den Lauf seiner Zukunft bestimmen, dann müssen sich alle zur Verteidigung seiner Würde und Souveränität die Hand reichen. Nur dann können seine Männer mit erhobenem Haupt leben.“ Khalil Abied, Bagdad