Juristen zu Stillschweigen verpflichtet

Die chinesische Presse schweigt zu den Prozessen gegen Anführer des Pekinger Frühlings/ Härtere Urteile erwartet/ Keine Informationen über große Zahl illegal festgehaltener Aktivisten der Demokratiebewegung/ Passive Reaktion der Bevölkerung  ■ Aus Peking Boris Gregor

Bei den Prozessen gegen Regimegegner vor dem Pekinger Stadtgericht stehen der in China prominente Dissident Ren Wanding und der Student Guo Haifeng vor Gericht. Außerdem soll gegen den Historiker Bao Zunxin und gegen Literatur-Dozenten Liu Xiaobo, 35, verhandelt werden. Die Anklage: „Anstiftung zur Konterrevolution und konterrevolutionäre Propaganda“. Beide waren aktiv an der Demokratiebewegung im Frühjahr 1989 beteiligt. Bao wird vorgeworfen, an der Veröffentlichung einiger Manifeste beteiligt gewesen zu sein, unter anderem: „Wir können nicht länger schweigen.“ In einer anderen Deklaration, die Bao offenkundig zur Last gelegt wird, hieß es über den KP-Veteranen Deng Xiaoping: „China hat noch einen Kaiser ohne Kaisertitel...“

Liu war bereits vor dem Pekinger Frühling in der Demokratiebewegung aktiv. Kurz vor dem Tiananmen-Massaker hatte er sich mit drei Freunden, unter anderem dem mittlerweile nach Taiwan ausgewiesenen Sänger und Komponisten Hou Dejian, an einem Hungerstreik beteiligt und mit den anrollenden Truppen über den friedlichen Abzug der Studenten verhandelt.

Die Öffentlichkeit erfährt lediglich über kleine Din-A-5-Aushänge vor dem Gerichtsgebäude in der Nähe des Tiananmen-Platzes über die Prozesse. Gestern morgen klebten insgesamt 14, zum Teil alte, Zettel an der Tafel. Einige Ankündigungen waren beschädigt, so daß der Name der Angeklagten nicht zu erkennen war. Entgegen offizieller Ankündigungen sind ausländische Journalisten bei den Prozessen bislang nicht zugelassen. Unklar ist, ob Familienangehörige teilnehmen dürfen. Die Verfahren werden von besonders ausgewählten Juristen geführt, die zu Stillschweigen verpflichtet wurden. Die Polizei warnte Verwandte, öffentliche Erklärungen abzugeben. Die Frau des Journalisten Wang Juntao, die sich mit westlichen Presseleuten treffen wollte, wurde für 48 Stunden festgesetzt.

Die chinesische Presse hat bis auf die ersten neun Prozesse vor einer Woche nichts über die Gerichtsverfahren berichtet. Die Urteile — Höchststrafe vier Jahre Gefängnis — waren relativ milde. Die Richtersprüche prominenterer Dissidenten dürften härter ausfallen, wenngleich politische Beobachter in Peking nicht mit Todesstrafen rechnen, da diese die jüngst mühsam reparierten diplomatischen Beziehungen zu Washington gefährden würden.

Die gewöhnlich gut informierte Hongkonger Zeitung 'South China Morning Post‘ kommentierte jüngst, die „humanitäre“ Behandlung der ersten neun Oppositionellen habe dazu gedient, die Aufmerksamkeit von mehreren hundert Arbeitern und Bürgern abzulenken, die nicht auf den Listen von „amnesty international“ oder anderen Menschenrechtsorganisationen verzeichnet seien und immer noch illegal wegen ihrer Beteiligung an der Demokratiebewegung festgehalten würden.

Szenenkenner schätzen, daß derzeit noch 60 bis 100 Oppositionelle auf ihren Prozeß warten. Es ist nicht auszuschließen, daß die Verfahren bis zum chinesischen Frühlingsfest Mitte Februar abgeschlossen werden, weil in dieser Zeit die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf familiäre Dinge gerichtet ist.

Ohnehin reagieren die Bürger auf die Prozesse, wohl aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus, passiv. Hongkonger Menschenrechtler, die sich jüngst in Peking heimlich über die Gerichtsverfahren informieren wollten, stellen enttäuscht fest, die Mehrheit sei derzeit stärker an den Reispreisen als an den Urteilen über Andersdenkende interessiert.