: Der Schulunterricht findet auf der Straße statt
Massenstreiks der SchülerInnen in Niedersachsen weiten sich aus/ Das einzige Telefon des Stadtschülerrats in Hannover steht nicht mehr still/ Allein in der Landeshauptstadt Niedersachsens beteiligen sich 80 Schulen an Aktionen ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Vorneweg zwei Schülerinnen mit dem Transparent „Für wen gibt es Sieg bei diesem Krieg?“, etwas weiter hinten eine Gruppe junger Frauen mit schwarzen Holzkreuzen. Dumpfe Trommelschläge, Rasseln Scheppern und dazwischen Sprechchöre: „Bei jeder Schweinerei ist die BRD dabei.“ An die Passanten in Hannover City verteilt eine Schülerin aus der Demo heraus Gereimtes gegen den Golfkrieg. Unter der Überschrift „Sinn oder Wahnsinn — Tausende sterben — Wofür“ heißt es auf dem mit der Hand beschriebenen grauen DIN-A-5-Zettel: „Wirtschaftbosse geh'n in Bunker und der Rest der Welt geht unter.“
Seit Dienstag reißen in Hannovers Innenstadt die Anti-Kriegsaktionen nicht mehr ab: Immer gleich mehrere Demozüge sind unterwegs mit ihren weißen schwarz beschriebenen Transparenten. Verkehrsknotenpunkte werden blockiert. Die Gewerkschaften organisieren jeden Abend um 17 Uhr im Stadtzentrum eine Kundgebung. Jedesmal kamen Zehntausende. Es protestieren: Arbeiter, Studenten, Krankenschwestern, Kinderläden. Die hannoverschen Schüler allerdings stellen den Haupteil der Demonstranten, die gegen den Krieg auf die Straße gehen.
„Auch heute sind schon wieder fünf Schülerdemos in der Stadt unterwegs“, kann Tim im Büro des Stadtschülerrates am Freitag morgen berichten: „Die kleinste Demo hat 800 die größte 5.000 Teilnehmer. Hier an den drei zusammengestellten mit dunkelgrüner Farbe aufgemöbelten Schreibtischen im Schülerratsbüro ist sozusagen die wichtigste Zentrale, wie sie eben auch eine spontane Bewegung braucht. „Wir machen hier jetzt seit Dienstag einen 24-Stunden-Service“, sagt der reichlich übernächtigte Schüler aus dem elften Jahrgang der hannoverschen Tellkampf-Schule. Auf einer großen Stelltafel neben den Schreibtischen sind die Aktionstermine für den gestrigen Freitag aufgelistet. Der wichtigste von zwölf Terminen für die Zeit zwischen 11 und 19 Uhr ist sicherlich die für den Nachmittag angesetzte Demonstration vor der Scharnhorst-kaserne im Nordosten Hannovers. „Wenn der Krieg eskaliert, sollen von dort Truppen in die Türkei verlegt werden“, begründet Tim die geplante Blockade der Kasernentore.
Das einzige Telefon auf den Schreibtischen steht nicht still. Die zehn Schülerinnen und Schüler, die den 24-Stunden-Service übernommen haben und auch schon mal mit Iso-Matte und Schlafsack im Büro pennen, lassen die Flugblätter drucken, geben Termine, Aktionsvorschläge weiter, vermitteln Referenten für „Alternativunterricht an den Schulen“, halten Kontakt zur Presse und zu anderen Stadt- und Kreisschülerräten. Sie haben auch die Koordination des landesweiten Schulstreiks übernommen, zu dem der Landesschülerrat Niedersachsen am Donnerstag aufgerufen hat.
Auf unzähligen gelben Zetteln, die auf den Schreibtischen kleben, finden sich die Rückmeldungen einzelner Schulen aus allen Teilen des Landes auf den Aufruf. „In Hannover findet zur Zeit an achtzig Schulen etwas statt, meist an Gesamtschulen, Gymnasien und Realschulen“, meint Tim, „Über die vielen Aktionen ins ganz Niedersachsen haben wir auch keinen wirklichen Überblick, aber wir haben noch den besten Durchblick.“ Zum Streikaufruf hat am Vortag auch der Kultusminister Wernstedt so halb seinen Segen gegeben. „Wir nennen das Streik, aber der Kultusminister will das nur Alternativunterricht nennen“, gibt Tim das Gespräch mit dem Minister wieder. Aber das sei wohl nur formal ein Unterschied.
Ob der Streikaufruf auch flächendeckend befolgt wird, ist für Tim und den anderen Organisatoren im Schülerratsbüro eigentlich nicht entscheidend. Viel wichtiger ist ihnen, daß bisher die Zahl der Aktionsteilnehmer von Tag zu Tag zunahm: Waren es am Dienstag nach 8.000 SchülerInnen, die in Hannover auf die Straße gingen, so demonstrierten am Mittwoch bereits 20.000 und am Donnerstag gar 30.000. Die Aktionen richten sich inzwischen auch direkt gegen die Beteiligung der BRD am Golfkrieg: Der Schülerrat ruft für heute 14 Uhr gemeinsam mit dem AStA der Uni und dem hannoverschen Friedensbüro zur Blockade des Fliegerhorstes in Wunstorf auf: Von dort werden niederländische Konvois in Richtung Golf verschickt.
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