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Gestandene Bilder

■ Von bewegten und unbewegten Kriegsfotos

Mein Vater hat einen Schatz. Der lagert, seit ich mich erinnern kann, auf dem Hängeboden. Als Kinder sagten wir, vornehmlich an endlos langen Sonntagnachmittagen, wenn der Vater Zeit hatte: »Vati, zeig uns doch mal die Bilder.« Der Vater ließ sich fast immer überreden. Er holte die Trittleiter und verschwand in dem Kisten- und Kofferlager. Nur seine Beine waren noch zu sehen; er stand auf den Zehenspitzen, um in die hinterste Ecke des Hängebodens zu gelangen.

Schließlich kam er mit einem alten, verschnürten Schuhkarton unter dem Arm wieder hervor, und wir setzten uns alle um den Wohnzimmertisch, Vater in der Mitte. Umständlich schnürte er den Karton auf und sagte: »Heute werde ich euch ein bißchen von Rußland zeigen.« Er entnahm dem Karton einen Stapel kleinformatiger gelblicher Fotos. Die meisten hatten einen altmodisch gezackten Rand, aber es gab auch solche mit geraden Kanten.

»Das war euer Vater, damals«, begann der Vater stets seinen Vortrag und zeigte uns das Porträt eines jungen Mannes mit militärisch kurz geschnittenem Haar in der Uniform der deutschen Wehrmacht. Er trug weder eine Uniformmütze noch einen Stahlhelm. »Nein, nein«, lachte der Vater, »das ist nicht in Rußland aufgenommen worden, sondern in der Heimat, während des Fronturlaubs«. Und dann erzählte er, daß er gegen Ende des Urlaubs stets froh war, wieder zurück »zu meinem Haufen« zu können. »Dort konnte ich kämpfen, in der Heimat saß ich nur herum.« Das war für mich schon damals schwer zu verstehen. Urlaub ist doch etwas Schönes, dachte ich.

Die Frischlinge, die in den Schützengräben lagen und nach Mama schrien

Was ich auf den Fotos sah, war so schön nicht. Zerschossene Häuser; gefangene Russen, die verängstigt, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in die Kamera guckten; ein totes Pferd; ein im tiefen Schlamm steckengebliebenes Motorrad; ein lachender Soldat, der sich mit nacktem Oberkörper und eingeschäumtem Gesicht vor einem kleinen Handspiegel rasiert. Das war wieder mein Vater.

Und der erzählte jetzt die Geschichten zu den einzelnen Bildern. Er erzählte von den Schlachten, die vor oder nach der Aufnahme stattgefunden hatten; von Feindbeschuß; von den russischen Soldaten, die ihr Kommandant mit Wodka so betrunken gemacht hatte, daß sie sich willenlos in »unser« Maschinengewehrfeuer treiben ließen; von den hinterlistigen Partisanen, die sofort erschossen wurden, weil sie, als uniformlose Kämpfer, gegen das Kriegsrecht verstoßen hatten; von den heranfliegenden Granaten, deren Richtung und Gefährlichkeit ein »altes Frontschwein« wie mein Vater schon am Geräusch erkennen konnte, während »die Frischlinge bei ihrer ersten Feuertaufe in den Schützengräben lagen und nach Mama schrien.«

Die Fotos lebten von diesen Geschichten und standen in einem eigenartig ereignislosen Kontrast zu ihnen. Denn auf den kleinen Schwarzweiß-Abzügen war strenggenommen von Krieg wenig zu sehen. Vielleicht einmal eine Rauchfahne, Kilometer weit weg, hinter dem Horizont der russischen Steppe. Schließlich wußte ich damals schon, wie richtiger Krieg auszusehen hatte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Brücke am Kwai gesehen. Und vor dem Spielfilm gab es die Fox — Tönende Wochenschau, mit Bildern von einem echten Guerillakrieg in irgendeinem höllisch grünen Dschungel. Gemessen daran waren die Bilder meines Vaters fad. Eben die eines Freizeitfotografen.

Und trotzdem wurde der Vater von uns Kindern immer und immer aufgefordert, die Bilder zu zeigen, die Geschichten zu erzählen. Es war wie eine Sucht. Irgendwann mußte das Bild kommen, auf dem man alles sah. Jenes wahre Bild, das deckungsgleich mit den Geschichten war.

Kurz nach 6 Uhr erwache ich am Sonntag. Wie schon in den Tagen zuvor drücke ich, noch gar nicht richtig wach, die Starttaste der TV-Bildermaschine. Doch heute morgen stimmt etwas nicht. Keine Moderatoren und Kommentatoren, keine Kriegsexperten und Auslandskorrespondenten kommen ihrer Informationspflicht nach, sondern berittene Indianer hetzen von rechts nach links an meinem Bett vorbei. Ist der Krieg kaputt? frage ich mich verwirrt. Doch mit einem Knopfdruck auf CNN ist die Normalität wieder hergestellt: Alle stationierten US-Reporter berichten in gewohnter Unerbittlichkeit; ARD/ZDF fangen halt sonntags eine dreiviertel Stunde später mit dem Krieg an.

Also ist nichts Außergewöhnliches passiert. Kein nächtlicher Raketenangriff auf Israel; vor allen Dingen keine neuen Bilder. Das Manko der derzeitigen Fernsehberichterstattung, der Mangel an authentischem visuellen Kriegshandlungsmaterial wird einmal mehr offenkundig. Keine dramatischen Kampfszenen. Statt dessen dümpelt eine Expertenbefragung vor sich hin, kämpft die Fernsehkriegsregie mit den Tücken der stehenden und fallenden Leitungen zu den strategisch plazierten Korrespondenten, wiederholen sich die wenigen vorhandenen laufenden Bilder in einer Endlosschleife: das nächtliche Bagdad unterm Lichtblitzhimmel; die intelligente Bombe, die sich ihr Ziel so präzise sucht, daß wir glauben müssen, sie gefährde keinen einzigen Zivilisten; der Löscheinsatz in Tel Aviv; gleich kommt der zweite Feuerwehrmann mit dem weißen Helm von rechts vorne ins Bild — ich weiß schon Bescheid. Das Schreckliche will nicht kommen.

Man muß die laufenden Bilder bannen, vielleicht lassen sie einen dann los

Bernhard Goder ist ein bildender Künstler aus Österreich. Zur Zeit lebt er in Berlin. Und wie derzeit alle in unserem globalen Dorf, die wir uns widerstandslos haben anfixen lassen, verfolgt er das Weltgeschehen auf dem Bildschirm. Besser gesagt: Er gehorcht seiner Sucht. »Man muß die laufenden Bilder bannen«, sagt er, »vielleicht lassen sie einen dann los.« Dabei geht er vor wie ein Fälscher.

Wenn ein Fälscher ein sehr teures Gemälde kopieren will, projiziert er bekanntlich ein Dia des Originals auf eine Leinwand. Dann malt er die projizierten Flächen sorgfältig farbig aus, und fertig ist die Verdoppelung des Einmaligen.

Bernhard Goder nun wendet diese Methode auf die laufenden Bilder vom Krieg an. Er hat sich eine Reihe gebrauchter Fernsehapparate besorgt und zeichnet mit seinem Videogerät eine Sequenz Kriegsberichterstattung auf. Aus diesem bewegten Material fixiert er ein Standbild, z.B. die Explosion einer Rakete in ihrem durch das Fadenkreuz ausgewiesenen Ziel. Dieses Explosionsbild malt er schließlich mit Spezialfarben so exakt auf der Oberfläche des Bildschirms nach, daß das elektronische Bild unter seiner Reproduktion verschwindet.

Eines seiner Kunstwerke, eben jenen explosionsübermalten Apparat, hat Goder mir als Leihgabe überlassen. Das festgebannte Bild der Explosion riecht immer noch nach frischer Farbe. Wenn ich das Gerät anschalte, laufen darunter Bilder, die ich nicht mehr sehen kann. Nur der Ton erzählt mir eine Geschichte; sie hat das stehengebliebene Bild längst überholt.

Ich sitze nun davor, festgenagelt in meiner Schausucht, die ich nicht begreifen kann. Da ist mein Vater, der die Schrecken des Krieges zu Alltagsfotografie umbog. Da ist der Künstler, der die Leere der Bilder in ihrem äußersten Moment, dem der Explosion, festzuhalten versucht. Und da ist die Bilderindustrie, die mir von Tag zu Tag erfolgreicher suggeriert, ihre Ware sei meine Primärwirklichkeit. Alles hat sich zu einem unentwirrbaren Knäuel von Irrealität verschlungen. Ein Leben jenseits der Bilder aber ist nicht mehr möglich. Christel Ehlert-Weber

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