: „Es fing an wie ein Feuerwerk“
■ Augenzeugen-Bericht vom Putschversuch in Riga: Bürgermeister Henning Scherf kam gestern aus Lettland zurück
taz: Warum sind Sie nach Riga gefahren?
Henning Scherf:In der letzten Woche war ja der stellvertretende Bürgermeister aus Riga hier und hatte gebeten, daß jemand vom Senat nach Riga fahren möchte. Ich bin aber erst mal allein hingefahren, um herauszukriegen, ob es sinnvoll ist, eine Parlamentsdelegation zu schicken.
Sie waren auf der Straße als der Putschversuch stattfand. Was haben Sie gesehen?
Ich habe das alles aus etwa 400 Meter Entfernung auf der Straße beobachtet. Den Überfall haben etwa 30 bis 40 Männer ausgeführt. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Die Schießerei fing wie ein Feuerwerk zu Silvester an. Aber dann wurde es schnell ernst. Es hat insgesamt eine dreiviertel Stunde gedauert, dieses Gefecht. Und dann sind die in das Innenministerium rein. Ich hab das schwer erkennen können, weil ja alles dunkel war, und ich hatte auch nicht den Mut, dahin zu laufen.
Als das Ministerium besetzt wurde, war es natürlich wegen des Sonntags fast leer. Der einzige, der sich dort befand, war der lettische stellvertretende Innenminister. Der hat bis zuletzt telefoniert. Das hat man später noch im lettischen Fernsehen gesehen. Dann hat er plötzlich gesagt: 'Jetzt treten sie meine Türen ein', und dann war die Verbindung unterbrochen. Fünf Tote und neun Verletzte gab es. Mit dieser Nachricht bin ich nach Hause gefahren.
Der jahrelange Ansprechpartner für die Partnerschaft Bremen- Riga war Alfred Rubriks. Er war an dem von Ihnen geschilderten Putschversuch beteiligt. Welche Auswirkungen wird das jetzt für die Partnerschaftsbeziehungen haben?
Der hat ja früher nicht als erster Sekretär der KP-Lettlands agiert, sondern als der damalige Bürgermeister. Wir haben mit ihm nur solche Verträge abgeschlossen, die wir selbst wollten. Wenn man eine Städtepartnerschaft in dieser Zeit haben wollte, dann gab's gar keine andere Möglichkeit.
Vertreter des Baltikums werfen dem Westen inzwischen vor, daß er sich zu einseitig auf Gorbatschow konzentriert und zuwenig Kontakte zu den neugewählten Regierungen aufgenommen hat. Ist der Vorwurf berechtigt?
Ja, irgendwie schon. Die haben sich ja alle als unabhängig erklärt und sind noch von keinem Land der Welt anerkannt worden. Es gibt keinerlei diplomatische Beziehungen — weder mit der russischen Republik, noch mit diesen drei baltischen Republiken. Und da kann ich gut verstehen, daß die sagen: Der Gorbatschow ist euch wichtiger als unsere Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Besonders nach diesen Vorkommnissen erwarten die Balten natürlich von uns ein direktes Einwirken auf Gorbatschow.
Was werden Sie konkret tun?
Ich werde jetzt einen Bericht schreiben und zum Auswärtigen Amt fahren. Vielleicht kann man das Ganze über den direkten Draht, den Kohl zu Gorbatschow hat, vorrantreiben. Und dann werden wir natürlich die ganzen Projekte und Austausche und Ausstellungen weiterführen. Wir dürfen jetzt auf keinen Fall den Kopf verlieren.
Es gibt aus dem Baltikum den Wunsch nach einer Art Marschallplan. Würden Sie so etwas unterstützen?
Das muß man sorgfältig überlegen. Jetzt gibt's die Sowjetunion ja noch, und wir haben Verträge mit ihr. Aber man muß sich sehr genau überlegen, wie das funktionieren könnte mit der nationalen und der zentralen Ebene. Ich finde es ganz gut, daß wir über die Städtepartnerschaft handlungsfähig sind.
Wir können ja ein Stück diese komplizierte völkerrechtliche Lage relativieren und in diesem Rahmen eine Menge machen. Obwohl ich dem armen Bremen natürlich keinen Marschallplan für Riga zutraue, wir bräuchten gemeinsam einen.
Fragen: Birgit Ziegenhagen
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