: Im Widerspruch
Über Antonio Gramsci ■ Von Michael Walzer
Sein Leben ist eines von denen, die zu hypothetischen Fragen einladen. Gramsci war einer der Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, ein vorzüglicher Schriftsteller und entschiedener Militant; Faschisten brachten den 35jährigen 1926 ins Gefängnis, wo er elf Jahre später, 1937, dem mittleren Jahr der Moskauer Verhandlungen, starb. In seinen Gefängnisheften — Tausende von Seiten, zu denen jetzt Tausende von Seiten gelehrter und politischer Exegesen hinzugekommen sind — schreibt er aus geschichtlicher Perspektive, im Stil von Reflexionen; er wußte praktisch nichts über das, was im letzten Jahrzehnt seines Lebens außerhalb seiner Gefängniszelle vor sich ging. Die fortschreitende Deformierung des internationalen Kommunismus geschah sozusagen hinter seinem Rücken. Bewahrte Mussolini ihn vor der stalinistischen Orthodoxie oder beraubte er die Linke eines tapferen und hochintelligenten Gegners des Stalinismus? Ist Gramsci der heimliche Ahnherr, der zum Schweigen gebrachte Theoretiker des Eurokommunismus (oder des Eurosozialismus)? Oder war er immer ein treuer Leninist, damals und wahrscheinlich auch heute der Diktatur des Zentralkomitees gehorsam?
Ein seltener Vogel: ein unschuldiger Kommunist
Linke Autoren versuchen zweifellos Gramsci zu verstehen, aber sie wollen ihn auch für sich in Anspruch nehmen. Denn er ist im zwanzigsten Jahrhundert ein seltener Vogel — ein unschuldiger Kommunist —, und er brauchte die Partei nicht zu verlassen, sondern nur von einem faschistischen Gericht schuldig befunden zu werden, um seine Unschuld zu bewahren. Meistens dient die Aneignung seines Werks einer guten Sache; sie hilft, die demokratische Politik in einem kommunistischen oder extrem linken Rahmen zu legitimieren. Gramscis Jahre des antifaschistischen Kampfes und danach seine Gefängnisjahre summieren sich zu einer Gegentradition, die der langen Reihe leninistischer Präzedenzfälle entgegengesetzt werden kann. Aber ist Gramsci in der Tat eher ein demokratischer Kommunist als sein Kontrahent, so wie man von jemandem sagen könnte, er sei ein demokratischer Sozialist, wenn man damit meint, daß er ein sozialistisches Regime nur mit der Zustimmung des Volkes errichten würde? Ich glaube nicht; seine Sicht der Rolle der Partei und der Intellektuellen im politischen Leben ist so zweideutig, so schmerzlich ungelöst, daß man ihr keinen derartig sympathischen Namen geben kann. Gramsci ist keinem „Ideal“ verpflichtet, wie Benda es beschreibt, also etwa der Freiheit oder Gerechtigkeit oder Selbstbestimmung. Er ist einer Doktrin verpflichtet, einem Bündel „wissenschaftlicher“ Argumente, die er wissenschaftlich zu verstehen beansprucht und für die er sich politisch zu engagieren hofft. Alle Probleme seiner Arbeit gründen in der Spannung zwischen dem Anspruch und der Hoffnung, dem Verständnis und dem Engagement, der marxistischen Wissenschaft und der Politik der Arbeiterklasse.
Die Hauptfigur in Gramscis Version der marxistischen Theorie ist der sich seiner Sache verpflichtet fühlende Intellektuelle. Das einzige Ziel der Theorie, der einzige Grund, die richtige haben zu wollen, ist das politische Handeln, und zwar ein genau festgelegtes Handeln: die Vorbereitung des Proletariats auf die Machtübernahme. Gramsci muß diese marxistische Auffassung intellektueller Orientierung mindestens während der kurzen Jahre geteilt haben, in denen er die italienischen Kommunisten anführte. Im Gefängnis jedoch, nach den schrecklichen Niederlagen Anfang der zwanziger Jahre, plädierte er für eine entscheidende Verschiebung der Prioritäten. Im Westen könne die Machtübernahme erst dann stattfinden, wenn eine neue Proletarierkultur geschaffen sei, und dann käme sie relativ leicht und würde nach einer kurzen politischen oder militärischen Auseinandersetzung das Ergebnis eines langen Kulturkampfes bestätigen. Deshalb sei es die Aufgabe des Intellektuellen, nicht nur aufgrund einer korrekten Theorie zu handeln, sondern auch eine neue Deutung der Welt zu entwickeln und zu erläutern.
Die Bastion der Macht: das gewöhnliche Leben
Gramscis große Entdeckung war die Dichte und Komplexität, die reine Robustheit der bürgerlichen Gesellschaft. In den hochentwickelten kapitalistischen Ländern, behauptete er, ist der Staat die Schöpfung der Eliten der Zivilgesellschaft, der instrumentelle Anhang einer herrschenden Klasse und ihrer unmittelbaren Verbündeten. Staat und Klasse stehen immer in einer, wie die marxistische Sicht nahelegt, „richtigen Beziehung“ zueinander. Nur in Ländern wie Rußland ist der Staat „alles“ und die Zivilgesellschaft „urtümlich und gallertartig“, die Klassen unentwickelt, politisch unorganisiert, unfähig, die staatliche Macht zu kontrollieren. Unter solchen Bedingungen ist ein leninistischer coup d'état möglich. In Italien jedoch ist dergleichen unmöglich (und in England und Frankreich erst recht), weil der Staat durch das geschützt wird, zu dessen Schutz er angeblich geschaffen wurde. Die wirkliche Bastion der bürgerlichen Macht ist das gewöhnliche Leben. In den alltäglichen Handlungen und Beziehungen und, wichtiger noch, in den Gedanken und Einstellungen, die hinter diesen stehen, offenbart sich die Vorherrschaft einer Gesellschaftsklasse. Der Staat kann erst dann erobert werden, wenn diese Hegemonie entschieden bezwungen wurde.
Die „Ergreifung“ der Zivilgesellschaft, ist mehr eine Infiltration als eine Übernahme, ein langer und zäher Kulturkampf, in dem die neue Welt langsam und schmerzlich die alte ersetzt. Dieses Konzept läuft auf eine Art kommunistischen Fabianismus hinaus, der sich jedoch mehr auf das Radio, die Presse und die Schule konzentriert als auf das städtische Wasserwerk. Und Gramsci teilt manchmal in der Tat den Optimismus der Fabier: „In der Politik ist der ,Stellungskrieg‘, einmal gewonnen, für immer entschieden.“ So wurde die Französische Revolution in den Jahren der Aufklärung gewonnen, nicht in den aufregenderen Tagen des Aufstands. Der Prozeß, nicht die „Ereignisse“, gab den Ausschlag.
Ein Leninist des Kulturkampfs
Der lange Prozeß der Aufklärung ist de facto ein Krieg. Er erfordert Disziplin, Organisation, ständige Kampfbereitschaft; er erfordert eine Struktur von Befehl und Gehorsam und eine Vorhut von Intellektuellen, eine Kommunistische Partei. Was genau bedeutet es, einem neuen Volkswillen das Terrain zu schaffen? Und warum setzt das eine disziplinierte politische Partei voraus? Warum nicht wie im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts eine Gruppe von philosophes? Vielleicht verwechselte Gramsci diese beiden und stellte sich eine utopische Vorhut, eine disziplinierte Armee freier Intellektueller vor.
Gramsci adaptiert und kompliziert damit den Satz von Marx: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“ Doch sein Verständnis der „herrschenden Gedanken“ hat politische und kulturelle Vorzeichen angenommen, die — jedenfalls bis vor kurzem — nur wenige Marxisten gutzuheißen bereit waren. Er selbst befolgt nicht immer die Signale und Andeutungen in seinen eigenen Überlegungen, die auf die Ersetzung der politischen Ökonomie durch eine Kulturanthropologie hinweisen. Wenn der marxistische Intellektuelle den Arbeitern von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, im Bemühen um Verständnis und um den gesunden Menschenverstand der Arbeiterklasse zu reformieren, bringen ihn eben diese Überlegungen in das bekannte Dilemma: Sollte er in seiner Distanz vom Arbeiter einen Vorzug sehen, oder sollte er selbst direkt an ihrem Alltagsleben Anteil nehmen? Sollte er außen stehen, oder sollte er das Risiko eingehen, sich „unter die Eingeborenen“ zu mischen?
Jede Herrschaft ist volksnah
Der Intellektuelle muß seine Wahl zwischen Distanz und Nähe treffen, und bei dieser Wahl sind zwei Argumente Gramscis entscheidend. Leider weisen sie in verschiedene Richtungen. Das erste Argument stammt von Marx, der es jedoch niemals entfaltet hat: Beherrschende Gedanken sind immer mehr als die vernünftige Begründung von Klasseninteressen. „Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen.“ Gramsci führt diesen Gedanken aus: Ideen werden erst dann bestimmend, sagt er, wenn sie in einer „universalen“ und nicht „korporativen“ Sprache ausgedrückt werden — und Universalität ist niemals bloß eine Vortäuschung. Jede Herrschaft ist ihrem Wesen nach „national-volksnah“, selbst wenn ihre zentralen Werte und die Grundsätze ihrer Organisation durch den Lebensstil einer bestimmten Klasse geprägt sind. Die sichtbare Organisation der Vorherrschaft und der dazu artikulierte Wertezusammenhang haben ihre Wurzel in einem komplexen politischen Prozeß. Und das Ergebnis ist etwas, das einer gemeinsamen Kultur sehr nahe kommt. Herrschende Intellektuelle sind mit Schreibstiften bewaffnet, nicht mit Schwertern; sie müssen die von ihnen verteidigten Ideen Menschen plausibel machen, die eigene Vorstellungen haben und die die Intellektuellen des Alltagslebens sind.
Die herrschenden Klassen internalisieren Widersprüche. Daraus scheint zu folgen, daß marxistische Intellektuelle sich nicht außerhalb der Welt der Kultur und des gesunden Menschenverstandes bewegen müssen, um die „wirklichen“ Interessen der Arbeiterklasse zu erkennen; denn diese Interessen sind, allerdings nur teilweise, in die hegemonialen Strukturen inkorporiert. Die Arbeiter haben einen Platz in der alten Gesellschaft, sind untergeordnet, aber nicht ganz negativ — es ist nicht nur das Fehlen von Status und Berechtigung —, und die Opposition beginnt im Grunde dort, wo sie sind.
Gramscis zweites und ganz anderes Argument gründet in seiner allgemeinen Auffassung vom Bewußtsein. So wie der gesunde Menschenverstand reichen die herrschenden Gedanken weit über „Interessen und Neigungen“ hinaus. Die von bürgerlichen Intellektuellen erwogenen Ideen repräsentieren nicht nur das wichtigste, sondern auch das der Wahrheit nächste Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit (und, nicht zu vergessen, der Naturwissenschaften). Sie kristallisieren sich zu den schönsten Auffassungen von Kunst und Literatur; sie verkörpern den klassischen Humanismus ebenso wie den bürgerlichen Liberalismus. Sie sind ganz einfach die besten Gedanken der Epoche (und aller früheren Epochen), und der Marxismus selbst führt sie fort, so wie er auch die „Vollendung“ der deutschen Philosophie, der englischen Volkswirtschaftslehre und der französischen politischen Wissenschaften ist. Die neue in der Arbeiterklasse fundierte Kultur läßt sich allein durch das Medium dieser Gedanken ausdrücken. An diesem Punkt werden keine Opfer oder Zugeständnisse gefordert. Es macht vielmehr Angst, daß die Kulturherrschaft so radikal unvollständig ist. Herrschende Gedanken herrschen direkt und vollständig einzig unter den Herrschern und den Intellektuellen. In den untergeordneten Klassen sind diese Gedanken nicht mehr als die letzten der „unendlichen Spuren“, die alle anderen überlagern, aber nicht ersetzen. Der gesunde Menschenverstand der Massen bleibt bis zu einem bedeutsamen, wiewohl unbestimmten Grad (es gibt kein Inventar) vorbürgerlich, eine gar nicht stimmige Mischung aus Vorurteilen, Aberglauben und „Utopien“, die ihrerseits von früheren herrschenden Ideen abstammen, die selbst niemals gänzlich verstanden oder absorbiert worden waren. Und neben all dem gibt es im Keim Andeutungen von etwas radikal Neuem.
Das Wissen der Menschen ist schwach
Oder vielleicht auch nicht so radikal Neuem, denn die Andeutungen zeigen ihre „Spuren“ in den herrschenden Ideen. Weil die Hegemonie Zugeständnisse machen muß oder ihrem Wesen nach wissenschaftlich und „fortschrittlich“ ist, läßt sich die Kultur der Zukunft von Intellektuellen wie Marx oder Gramsci voraussehen, die in der herrschenden Klasse aufwuchsen, Anteil an ihrer Kultur hatten und sich dann zu ihrem Gegner erklärten. Allerdings müssen sie sich auch zum Gegner der Arbeiterklasse erklären, jedenfalls soweit die Arbeiterklasse von ihrem gesunden Menschenverstand bestimmt ist. Obwohl sie auf eine neue Kultur hoffen, sind die kommunistischen Intellektuellen die Pfeiler der alten Hegemonien.
Einige von Gramscis ersten Arbeiten befassen sich mit Bildungsfragen. Erziehung ist Schwerstarbeit; niemand ist von Geburt an mit Sorgfalt, Genauigkeit und Haltung ausgerüstet; sie zu erwerben ist in Anbetracht des kulturellen Konflikts (des Stellungskriegs) und dessen, wie die beiden Seiten darauf vorbereitet sind, für Kinder von Fabrikarbeitern viel schwerer als für Kinder der Bildungsschicht. Es war für Gramsci selbst, als Sohn und Enkel von Provinzbeamten, nicht leicht gewesen, es würde für Schüler aus niedrigeren Gesellschaftsschichten noch schwerer sein. Und doch waren es, wie er glaubte, die Schulen, der alte Lehrplan, das mechanische Lernen und die gelegentliche Zuwendung höchst unfähiger Lehrer gewesen, die ihn aus der abgelegenen und zurückgebliebenen Provinz Sardinien ins moderne Turin gebracht hatten. Körperlich schwach, oft krank, bucklig und fast ein Zwerg hatte er seinen Weg gemacht, allerdings nicht ohne fremde Hilfe. „Erwarte von niemandem etwas“, schrieb er 1927 an seinen Bruder Carlo, „und du vermeidest Enttäuschungen.“
Gramscis Anmerkungen zur Erziehung sind streng, und die Strenge ist persönlich und ideologisch. Seine Briefe sind im selben Ton geschrieben. Ich kann über die Quellen dieser Strenge in seinem Leben nur spekulieren, doch es scheint die Spekulation wert zu sein. Das Dilemma eines Intellektuellen wie Gramsci ist ein persönliches Dilemma. Das, was er von den Arbeitern erwartete, ist das, was er meinte, für sich erreicht zu haben. Sie müssen so radikal mit dem „Sardinien“ des gesunden Menschenverstands brechen, wie er mit dem wirklichen Sardinien gebrochen hatte, in dem er geboren und aufgewachsen war. Sie müssen dahin gelangen, ihre „geistige Sklaverei“ so sehr zu hassen, wie er die Rückständigkeit Sardiniens haßte. In Sardinien, schrieb er einmal, habe er nur „die brutalsten Aspekte des Lebens“ kennengelernt. In Wahrheit hatte er dort mehr kennengelernt: die Anfänge des Aufruhrs, Mitgefühl mit den Unterdrückten, ja sogar Solidarität — in Gestalt des sardischen Patriotismus, ein Gefühl, das er lange unterdrückt hatte, als er die Gefängnishefte schrieb. Aber all das waren erste Gefühle, eng an den dortigen gesunden Menschenverstand gebunden, und sie mußten, wie Gramscis englische Editoren sagen, „transzendiert“ werden. So verhielt es sich mit dem gesunden Menschenverstand der Arbeiter, obschon er manchmal nur „rudimentäre“ Solidarität hervorbringt.
Gleichzeitig macht Gramsci sich Sorgen über intellektuelle Transzendenz. „Das populäre Element fühlt und weiß, versteht aber nicht; das intellektuelle Element weiß, aber es versteht nicht und kann insbesondere nicht immer fühlen [...]. Der Fehler des Intellektuellen besteht darin, zu glauben, daß man ein Intellektueller sein kann (und nicht nur ein Pedant), wenn man sich von Volk und Nation unterscheidet und löst, also die Menschen versteht, ohne ihre elementaren Leidenschaften zu teilen oder zu verstehen und ohne dialektisch mit den Gesetzen der Geschichte und einer erhabeneren Weltauffassung zu verknüpfen, die wissenschaftlich und kohärent durchdacht ist — dem Wissen also.“
Er äußerst eine ähnliche Sorge in persönlichem Zusammenhang: In einem Brief an seine Frau erinnert er sich an ein liebloses Leben (bevor er ihr begegnet war) und bekennt, daß er sich oft gefragt habe, „ob es möglich wäre, mich selbst mit der Masse der Menschen zu verbinden, wenn ich niemals irgend jemand geliebt [hätte], nicht einmal meine eigene Familie, [ob] es möglich war, ein Kollektiv zu lieben, wenn ich niemals selbst von einzelnen Menschen geliebt worden war?“ Der ungeliebte und sich selbst bemitleidende Intellektuelle ist uns vertraut genug, denke ich, und ich möchte mich nicht mit ihm beschäftigen, sondern vielmehr mit der ersten von Gramscis Fragen, die seine Ablehnung von Heim und Heimat ausdrücken. Er hatte sich um einen großen persönlichen Preis gelöst. Konnte er sich jetzt kameradschaftlich Männern und Frauen verbunden fühlen, die sich nicht gelöst hatten, die die Rückständigkeit verkörperten, die er überwunden hatte? Wie konnte er ohne ein Gefühl für die eigene Vergangenheit Mitgefühl mit den Menschen entwickeln, die noch in jener Vergangenheit lebten?
Es ist eine ehrliche Frage, die an Rousseaus Verachtung für Philosophen erinnert, die die Menschheit lieben, aber ihren nächsten Nachbarn verachten. Hat Gramsci jemals die Arbeiter „geliebt“? Ich zögerte, die Frage in dieser Form zu stellen, hätte Gramsci sie nicht selbst gestellt. Aber die Gefängnishefte lassen eine Antwort vermuten: er liebte die Arbeiter wohl nur so, wie ein strenger Lehrer einen zurückgebliebenen, widerspenstigen, freilich vielversprechenden Schüler liebt. Es ist nicht die Liebe eines Bruders oder Freundes.
Was Gramsci fordert ist, daß der vielversprechende Schüler seine eigene „Kultur und Gesellschaft“ aufgibt. Das ist die Forderung, die die Partei an die Arbeiterklasse insgesamt richtet. Gramscis Erziehungsprogramm läuft darauf hinaus, mit Arbeitern so umzugehen, als ob sie Einwanderer in einem fremden Land wären, „Grünschnäbel“, wie er selbst einer war, als er nach Turin kam. Sie haben den entscheidenden Schritt getan — in die moderne Fabrik —, und jetzt müssen sie sich auf die neue Welt einlassen, die sie betreten haben, oder sich dafür erziehen lassen.
Aber was kann man denn von den italienischen Arbeitern erwarten, die „schlecht sind beim Organisieren der Elemente“ und die auf die Führung von Expatriierten wie Gramsci nicht verzichten können? Hätte Gramsci die Arbeiter in den Hintern getreten — so, wie er die Jakobiner der französischen Revolution beschrieb als „eine Gruppe von ... entschiedenen Männern, die das Bürgertum in den Hintern tritt“? Wir können dazu nur sagen, daß er keine Gelegenheit dazu hatte.
Gramscis theoretische Überlegung ist widersprüchlich. Er glaubt, daß in Ländern wie Italien der kulturelle Stellungskrieg vor dem politischen Manöverkrieg gefochten werden und ein „eindeutiges Ergebnis“ bringen wird. Dieser Stellungskrieg sollte dann Nötigung, jedenfalls die Nötigung der „Volksmassen“ überflüssig machen. Aber er glaubt auch, daß der Stellungskrieg erst endgültig nach der Machtübernahme gewonnen werden wird. Wer wird das Manöver leiten, mit dem der Staat ergriffen und gehalten wird? „Eine Gruppe entschlossener Männer“, deren persönliches Leben so widersprüchlich sein muß wie ihre Theorie; denn sie lieben das Volk, das sie nötigen, und lieben es doch nicht wirklich.
Es ist die Kluft zwischen dem elementaren und dem gesunden Menschenverstand einerseits und Gramscis eigenem absoluten Wissen andererseits, die diese Widersprüche erzeugt. Sie erwachsen aus der Leere zwischen dem Volk und den Intellektuellen, einem ungeheuren Raum, den selbst die Dialektik nicht überbrücken kann. Gramsci möchte ein „demokratischer Philosoph“ sein, und seine Konzeption der Vorherrschaft, hätte er sie vollständig entwickelt, hätte sich wohl als der Grund erweisen können. Sicherlich kommt kein kommunistischer Theoretiker einer revolutionären Strategie näher als Gramsci in seiner Gefängniszelle, einer Strategie, die den Normen einer funktionierenden Demokratie entspricht oder auf sie abgestimmt werden kann.
Eine unregelmäßige Bewegung
Gramsci ist, so könnten wir sagen, ein Opfer der marxistischen Teleologie. Fortschritt ist seine Form der Ablösung, und sie zieht genossenschaftlicher Politik bestimmte Grenzen. Je fortschrittlicher seine Theorie, um so weiter ist er in der Praxis von der Rückständigkeit der Arbeiterklasse entfernt. Seine politische Tätigkeit ist eine unregelmäßige Bewegung in Richtung des Volkes, das er zu führen hofft, und wieder von ihm weg. Er weiß zwar, daß er es nicht ohne seine Zustimmung führen kann, aber er weiß auch, und diesmal mit einem „wissenschaftlichen und kohärent ausgearbeiteten“ Wissen, daß es seiner Führung zustimmen müßte und im Lauf der „realen historischen Entwicklung“ auch zustimmen wird. Dieses Wissen gewann er, als er Sardinien hinter sich ließ, und es macht ihn zu einem selbstsicheren und in seinen Augen objektiven Kritiker des gesunden Menschenverstands. Aber Objektivität hat ihren Preis, den Gramsci auch akzeptiert: „Das intellektuelle Element ,weiß‘, aber es versteht nicht immer.“ Ohne Verständnis freilich sind Kritik und Führerschaft gleichermaßen korrupt.
Die Gefangenschaft bewahrte Gramsci vor den praktischen Folgen dieser Korruption — oder vor der praktischen Notwendigkeit, sich selbst zu retten. Im Gefängnis kämpfte er mit bewundernswertem Mut und außerordentlicher körperlicher und geistiger Disziplin mit dem Dilemma der intellektuellen Militanz. Er löste dieses Dilemma weder für sich noch für uns. Er gab seine Bindung an die Partei und die Lehre, die sie verkörperte, niemals auf. Er hörte nicht auf zu hoffen, daß der von der Partei geführte Stellungskrieg doch ein demokratischer Krieg sein könnte. Es ist, so denke ich, kein unmöglicher Traum: Die Vorhut verbindet sich mit der Nachhut, nicht unter dem Zwang des Stahls, sondern durch die Überzeugungskraft der Worte. Der Traum eines Intellektuellen, der jedoch durch die Zuversicht eines Intellektuellen gefährdet wird, er würde, wenn er marschierte, immer in der vorderster Linie marschieren.
Ein Vorabdruck (stark gekürzt und leicht bearbeitet) mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Michael Walzer, Zweifel und Einmischung · Gesellschaftskritik im 20.Jahrhundert . Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, S. Fischer Verlag, ca. 380 Seiten, geb., 48 DM, erscheint voraussichtlich im April
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