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Züchtigung im Dienste der Manneszucht

■ Berichte und Analysen zum Thema Wehrmachtsdesertion in der Edition Temmen/ War auch Hitler Deserteur?

„Wo sind die Deserteure, die sich in den zerstörten Städten verbargen, in Dörfern und Wäldern wartend auf die Alliierten?“ fragte 1953 Heinrich Böll. „Wo sind die Eltern, sind die Freunde, die Brüder und Schwestern der erschossenen Deserteure, deren Leichen man auf die Schwelle des Friedens häufte?“

Sie hielten sich auch nach dem Krieg weiter verborgen. Und in der frühen Nachkriegszeit gab es nur sehr vereinzelt literarische Arbeiten zur Wehrmachtsdesertion und wenige, damals noch heftig angefeindete „Selbstbezichtigungen“ von Schriftstellern (Böll eben, Alfred Andersch, Aicher). Das allgemeine Schweigen hielt lange an. Seit wenigen Jahren erst findet das Thema dieser Form des persönlichen Widerstandes in der Wehrmacht die längst überfällige Aufmerksamkeit. Zwei Bücher des rührigen Temmen-Verlages haben jetzt mit beeindruckenden Materialien und Analysen ein weiteres Stück Geschichtslücke geschlossen.

Norbert Haases kleiner Rotbuch-Band Deutsche Deserteure von 1987 war ein erster wichtiger Schritt, der auch den Deserteur Hans Frese veranlaßte, ein letztes Mal für seine tagebuchartigen Erinnerungsberichte einen Verlag zu suchen. Rowohlt und andere hatten abgelehnt, auch Verleger in der DDR („zu idealistisch“). Im Alter von 84 Jahren hat es Frese schließlich geschafft, daß wir von seinem jahrelangen Leid lesen können, von erschütternden Mißhandlungen und Demütigungen, von immer neuen Fluchtversuchen, dem Zynismus seiner Vorgesetzten, aber auch vom Durchhaltewillen und von seinen Notizen „auf dem Klopapier“ in den Lagern und Kasernen, die er vor seinen Wächtern verbergen konnte und die später Grundlage für sein Manuskript wurden. Entsprechend authentisch, dicht, direkt und nachspürbar lesen sich jetzt seine Schilderungen. Der neuerschienene Nachfolgeband der Edition Temmen, zustande gekommen durch eine Geschichtswerkstatt im Emsland, wo sich viele Moorlager und Strafbataillone für Widerständler befanden, stellt eine gelungene Mischung dar aus weiteren Berichten geschundener Deserteure und Analysen zur Rolle der Militärjustiz. Der analytische Teil ist trotz Zitatenfülle, juristischen Detailfragen und einer stattlichen Anzahl Fußnoten immer noch leicht lesbar und auch für Rechtslaien verständlich geschrieben.

Dies gilt insbesondere für den Aufsatz Aussonderung und Ausmerzung im Dienste der „Manneszucht“. Der zuwenig gezüchtigte Mann im Militärapparat galt als schwelender Gefahrenherd, als ansteckendes Virus für die „Kameraden“. Ihn „mußte“ die Militärjustiz bekämpfen, und so wurden Verstöße gegen die Regeln der Manneszucht quasi zum Straftatbestand, der erbarmungslos verfolgt wurde, bevor er zum „Bremsklotz am Siegeswagen“ werden konnte.

Wie das Recht im Unrechtsregime nach 1945 bewältigt wurde, beschreibt der Historiker Detlef Garbe. Bis hin zum Bundesgerichtshof wurde solange gefeilt und argumentiert, bis „die Grundlagen für die juristische Absolution der Wehrmachtgerichtsbarkeit gelegt waren“. So können die „erbitterten Debatten“ hierzulande über Deserteursdenkmäler nicht verwundern. „Die Heftigkeit der Kontroversen ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß das Selbstverständnis unserer Gesellschaft an einem neuralgischen Punkt getroffen ist.“

Verräter oder Vorbilder? Für die einen sind Deserteure pauschal Drückeberger und Kriminelle, die ihre Kameraden im Stich lassen, andere sehen in ihnen Helden. Norbert Haase stellt einen neuen Aspekt zur Diskussion: Wenn man den Widerstandsbegriff nicht ausreichend differenziere (und etwa schwerkriminelle Deserteure mitzähle), müsse man, schreibt er, „auch Adolf Hitler einen Deserteur nennen“. Schließlich hatte sich der Oberbefehlshaber noch vor Kriegsende durch Selbsttötung gedrückt. Bernd Müllender

Hans Freese, Bremsklötze am Siegeswagen der Nation. Erinnerungen eines Deserteurs an Militärgefängnisse, Zuchthäuser und Moorlager in den Jahren 1941 — 1945. Edition Temmen, Bremen 1989

Fietje Ausländer (Hrg.) Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus . Edition Temmen, Bremen 1990.

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