: „Wir müssen der Welt und der Roten Armee zeigen, daß wir keine Angst haben“
■ Interview mit Sullija Benfelde, Mitarbeiterin des Vorsitzenden der lettischen Volksfront (Tautas Fronts), Romals Razuks INTERVIEW
taz: Hat die Volksfront sich schon seit längerem auf diesen bürgerkriegsähnlichen Zustand logistisch vorbereitet?
Sullija Benfelde: Grundsätzlich hatten wir schon Vorstellungen, was wir tun müssen, sollte sich die Lage verändern. Die Rundfunkjournalisten waren seit Monaten in Alarmbereitschaft und haben seither rund um die Uhr gesendet. Untereinander haben wir eine Telefonkette gebildet. Nach unserem Hilferuf in der Nacht des Überfalls in Vilnius haben sich Tausende bei uns gemeldet oder sich auf dem Domplatz vor dem Rundfunkhaus eingefunden. Unser Büro war Informations- und Koordinationszentrum. Ärzte waren auch sofort da. Später hat die Regierung die Koordination der Verteidigungsmaßnahmen übernommen.
Zuerst standen da nur LKWs und landwirtschaftliche Fahrzeuge. Jetzt tauschen wir sie aus gegen Betonblöcke und ähnliches. Gegen die Armee wird natürlich auch das nicht viel ausrichten. Aber es wird sie zumindest aufhalten, und wir gewinnen Zeit, um das Land zu informieren und vor allem der Welt zu sagen, was passiert. Moskau hat gehofft, die Situation wäre wie 1940: daß sich unbewaffnete Leute nicht der Armee entgegenstellen.
Heute scheinen sehr viele bereit, sich zu opfern?
Ja, viele. Und wir wissen auch, daß sie unsere Bitten und Warnungen nicht beachten werden. Sie werden bleiben. Jetzt müssen wir noch der Welt und der Armee zeigen, daß wir keine Angst mehr haben.
Das heißt, die Hoffnung auf eine friedliche Lösung haben Sie aufgegeben? Sollte es aber dennoch zu Verhandlungen kommen, wo besteht da überhaupt noch ein Verhandlungsspielraum?
Die Hoffnung haben wir nicht verloren. Die Möglichkeit, über Gespräche etwas zu erreichen, scheint jedoch sehr gering. Von der Forderung nach Unabhängigkeit können wir nicht abrücken. Eigentlich hängt alles von der Haltung der Weltgesellschaft ab. Hätte die Welt sich bisher nicht gerührt, wären wir schon längst untergegangen. Kompromisse müssen allerdings möglich sein. Wenn die Leute aber so denken wie Bundeskanzler Kohl, der nur noch mit seinem wiedervereinigten Deutschland zu tun hat, dann sieht es schlecht aus. Oder auch wie Finnland, das glücklich ist, 1939 mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
Könnte es wie in den 30er Jahren aussehen? Die UdSSR behält Armeebasen im Land, zieht sich ansonsten aber zurück?
Auf keinen Fall wollen wir die Rote Armee im Land behalten. Der Rückzug kann natürlich nicht von einem Tag auf den anderen erfolgen. Wichtig ist es aber zuerst einmal zu wissen: Wo sind sie untergebracht, wie groß sind die Truppenkontingente. Die Orte wollen wir definitiv wissen. Außerdem dürfen sie nicht wie bisher über das ganze Land zerstreut sein, so daß wir keine Möglichkeit haben, sie zu kontrollieren. Sie sollen sich allmählich zurückziehen.
Noch einmal, worüber könnten Verhandlungen eigentlich sonst noch geführt werden?
In der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Mai haben wir schon dargelegt, daß wir zu Verhandlungen bereit sind und wie wir uns die Zeit bis zur Souveränität vorstellen. Bisher hat es ja nicht einmal Diskussionen darüber gegeben. Erstmal können sich Gespräche nur um den Rückzug der Armee drehen. Bei den „Black Berets“ wissen wir nicht einmal, wer sie kommandiert. Fragen wir den Kommandeur der Roten Armee im Baltikum, Kuzmin, lehnt der jede Verantwortung ab. Diese Truppen unterwerfen sich keinem Gesetz. Sie tun und lassen, was sie wollen. Wahrscheinlich stehen sie unter dem Befehl des sowjetischen Innenministers, Boris Pugos, vielleicht sogar noch unter höherem...
Da gibt es nur noch einen drüber, den Präsidenten...
Ja. Heute haben sie bei uns angerufen und gedroht, „wenn die Leute nicht von den Barrikaden verschwinden, eröffnen wir in einer halben Stunde das Feuer“. Die „Berets“ tauchen überall auf in der Stadt. Gewöhnlich sind sie betrunken oder stehen unter anderen Drogen. Sie sind unberechenbar. Wir wissen von 126 „Berets“ in der Stadt. Doch mittlerweile schießen Militärs in Lettland wie Pilze aus dem Boden. Sie kommen überall her.
Wie geht die Volksfront mit den Ängsten der russischen Bevölkerung um? Lassen sich heute schon mehr Gemeinsamkeiten entdecken als noch vor einigen Monaten?
Der russischen Bevölkerung müssen wir erklären, was eigentlich im Land vorgeht. Viele von ihnen sind Angehörige von Militärs. Sie schauen nur das Moskauer Fernsehprogramm. Hier ist es unsere Aufgabe, sie zu informieren und zu überzeugen. Doch einige denken schon jetzt um. Dafür ist zuviel passiert. Aber eine Gruppe von Leuten sperrt sich mit aller Macht dagegen nachzudenken. Viele haben auch Angst davor, daß es ihnen so ergeht wie den Letten 1941. Nach der Besetzung wurden viele deportiert und nun glauben sie, falls wir unabhängig werden, drohe ihnen das gleiche Schicksal. Sie können auch bei uns mitarbeiten, denn wir fragen die Leute nicht nach ihrer Nationalität. Uns geht es um die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft.
Ist die Provinz genau so wehrbereit wie Riga und organisiert die Volksfront den Widerstand auf dem Land?
Die Menschen in der Provinz stehen ganz und gar hinter uns. Täglich kommen sie zu Tausenden nach Riga mit Traktoren und Bussen. Selbst uns hat es überrascht, wieviele es sind. Und ohne sie könnte sich Riga gar nicht verteidigen. Am letzten Sonntag waren über eine Million Menschen auf der Demonstration für Litauen. 200.000 Mitglieder hat die letzte Zählung ergeben. Aber die Sympathisanten und aktiven Helfer machen ein Vielfaches aus. Jetzt organisieren sie sich untereinander. Steht jemand einige Tage in Riga hinter der Barrikade, sorgt er dafür, daß jemand für ihn einspringt, wenn er sich zur „Erholung“ zurückzieht.
Jelzins Solidaritätserklärung, war sie mehr als nur moralische Unterstützung für Sie?
Der Kreml ohne Rußland ist ein Nichts. Und viele glauben an Jelzin. Die, die uns nicht glauben, vertrauen wenigstens ihm. Schon jetzt spüren wir die Reaktionen auf Jelzins Appell an die Armee, nicht auf Zivilisten zu schießen. Es wäre übertrieben, von einer Massenerscheinung zu sprechen. Aber es gibt eine Reihe Hinweise, daß sich Soldaten geweigert haben, gegen uns vorzugehen. Bisher handelt es sich allerdings um ungeprüfte Meldungen.
Ende letzter Woche haben auch Vertreter der Interfront, der Volksfront und der KP Lettlands einen Aufruf unterzeichnet, daß sie nicht mit Gewalt gegen Menschen vorgehen werden. Seit langer Zeit zum ersten Mal saßen Vertreter aller Richtungen wieder an einem Tisch. Interview: Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen