piwik no script img

Tragische Bachstelze

■ Jürgen Gosch inszeniert Tschechows „Möwe“ am Schauspielhaus Bochum

Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Tschechow nennt sein Stück eine Komödie und setzt an den Schluß einen Selbstmord. In Bochum überwiegt heute die Tragödie. Nach der Vorstellung kommt man auf den Theatervorplatz: von der privaten Tragödie zur politischen. Draußen die Mahnwache gegen den Golfkrieg, auf dem Pflaster eine Liste aller Kriege der letzten Jahrzehnte. Dazu heult ein rückgekoppeltes Megaphon. Drinnen das Mahnstück über verpfuschtes Leben, auf der Bühne eine Demonstration aller Möglichkeiten, sich durch Liebe unglücklich zu machen. Dazu scheppert ein Walzer von Chopin. Die Stimmung ist düster.

Dabei hat Regisseur Jürgen Gosch kein Konzept aufgezwungen, nichts unangemessen verschärft. Gosch, der für kurze Zeit der Leitung der Berliner Schaubühne angehörte, nach zwei glücklosen Inszenierungen jedoch wieder ausschied, ist ein Regisseur, der Werktreue und Formalismus kombiniert. Nie engt er den Text inhaltlich ein, aber immer formal. So ist auch diese Inszenierung streng choreographiert, sparsam bebildert und stets stilisiert. Bisher schien die Alternative bei Tschechow-Inszenierungen zu sein: schrille Komik oder vage Melancholie. Gosch zeigt beides, Melancholie und Komik, aber bei ihm ist die Melancholie nicht vage und die Komik nicht schrill. Kein Dekadenzplüsch und kein Tanz auf dem Vulkan, sondern eine weite Bühne mit ein paar Menschen, die sich nicht näherkommen können, so sehr es sie auch zusammentreibt.

Das Bühnenbild von Johannes Schütz ist eine kahle halbrunde Fläche, auf der jeweils nur wenige Requisiten stehen. Die Farben sind genau bestimmt für jeden Akt. Der erste ist bunt, dominiert vom Blau des Sees, im zweiten und dritten ist alle Farbigkeit auf den Schwarz-Weiß- Kontrast reduziert und im vierten ist alles eingedüstert zu dumpfen Brauntönen. Jürgen Gosch hat für die Inszenierung eine Reihe von Schauspielern mit nach Bochum gebracht, so Jürgen Holtz, der den Arzt Dorn spielt. In der traurigen Versammlung von Menschen, die unverwirklichbaren Liebesträumen nachhängen, wird dieser Dorf-Don-Juan zum verantwortungsbewußten Realisten. Er spielt alles herunter, trällert darüber hinweg und weiß doch als einziger genau, was vor sich geht. Seine Therapie: nichts, allenfalls Baldrian und Selters. Holtz bringt es fertig, die Komik der Rolle auszukosten und das Gespielte der Komik zu zeigen. Und dann Horst Mendroch als Gutsverwalter Schamrajew. Sein Wutanfall beim Streit über die Kutschpferde wird zum akustischen Höhepunkt der Aufführung. Hier platzt endlich einem der Kragen. Er brüllt und tobt, als ginge es um sein Leben. Aber es geht um eine Nebensache. Der Ausbruch kommt an der falschen Stelle. So geht es eben im falschen Leben.

Diese beiden komischen Nebenrollen werden seltsamerweise die prägnantesten Figuren der Inszenierung. Kostja, der junge Möchtegern- Schriftsteller und Trigorin, der erfolgreiche Literat, die beiden Hauptkonkurrenten des Stückes, bleiben dagegen unscharf.

Der deutlichste Mangel ist jedoch die Besetzung von Kostjas Mutter Irina. Sie, die Provinzdiva, die egozentrische Herrscherin über diese Gesellschaft von Trauerklößen, wird von Heidemarie Theobald gespielt, einer schmächtigen, empfindsamen, nervösen Darstellerin. Daß hier im Zentrum des Stücks eine laute, mächtige Frau fehlt, trägt mit zu dem leisen zaghaften Charakter der Inszenierung bei.

Ähnlich zerbrechlich und zart ist Nina, das junge theaterbegeisterte Unschuldskind, das sich durch seine Liebe zu dem unentschlossenen Trigorin zugrunde richtet. Angela Schanelec hüpft und trippelt leichtfüßig herum, ihre Stimme ist piepsig, ihr Lächeln frisch und kühl: eher eine Bachstelze als eine Möwe. In den ersten drei Akten ist dieser flinke Vogel ein passender Kontrast zum dumpfen Brüten der Älteren. Aber im vierten Akt, wo sie um zwei Jahre gealtert sein und durch Leid gelernt haben müßte, heult sie nur schrill und zetert, als sei sie aus dem Nest gefallen.

So scheitert die intelligente Inszenierung an einer unausgewogenen Besetzung. Die Komiker brillieren und die tragischen Rollen glänzen nur matt. Das Stück aber dämmert der unauffälligen Katastrophe entgegen. Tatsächlich, in Bochum spielt man in diesen Tagen eine Komödie. Gerhard Preußer

Anton Tschechow: Die Möwe; Regie: Jürgen Gosch; Bühne: Johannes Schütz; Schauspielhaus Bochum. Weitere Vorstellungen: 25.1., 1. und 16.2.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen