: »Die Lust bleibt uns treu, die Sehnsucht wird neu geschürt ...«
■ Neues von der Heimatfront: Warum die Berlin-Kultur-Seiten ab heute wieder dem Entertainment frönen
Erotik, Helden, Service« — dieser Slogan, mit dem eine neue Zeitschrift wirbt, klingt wie das Kulturprogramm für Soldaten im Einsatz, aber in Wirklichkeit richtet es sich an die Ästheten an der Heimatfront. »Ästhetik pur« verspricht Chefredakteur Andreas Wede im Italienimport 'Max‘, denn »nichts ist schwerer als gute Unterhaltung. Und 'Max‘ will Sie unterhalten, nicht mehr, nicht weniger.« Und fährt fort: »Denn mehr noch als die Achtziger werden die Neunziger ein visuelles Jahrzehnt sein. Ein Knopfdruck genügt, und Sie sitzen nicht nur bei ARD und ZDF in der ersten Reihe, private Sender beleben die Konkurrenz im Fernsehgeschäft.« Diese — wäre sie nicht so banal — wahrhaft prophetische Kurzanalyse der totalitären Herrschaft CNNs über die Nachrichten- und Meinungspoole der Welt begründet also die Notwendigkeit eines dem geschmackvollen Entertainment dienenden Bilderbuchs: »...damit es in Zukunft neben Zuschauern weiterhin Leser gibt«.
Der Schlachtruf »Erotik, Helden, Service« wäre somit nichts weniger als ein Ruf nach Bewahrung der abendländischen Traditionen, nach Lesekultur inmitten von elektronischer Unkultur, nach Bildung statt Berieselung. Doch Bilder, sogar brillante Bilder will auch das neue Magazin bevorzugt bieten. Wie gut, daß mit dem jetzt plötzlich offensichtlichen Rückgang an Präzision, an Schärfe in den Berichten (»Ich muß Sie darauf hinweisen, daß die Bilder und Berichte, die Sie sehen werden, der Zensur unterliegen«, sagt Friedrichs in den Tagesthemen, um sie dann wie gewohnt als Hardware zu behandeln), mit dem spätestens jetzt bestätigten Mißtrauen gegenüber dem Wort ein ungeheurer Hunger auf Bilder, ob wahr oder falsch, eingesetzt hat, Hunger auf sinnlich Faßbares, Hohes, Weites, Tiefes, Schnelles, Klares, Kluges, Böses, Gutes, Tiefenscharfes, ein Hunger, den keine Expertenrunden, Kommentare, Analysen, Sekundärbetroffene ersetzen können. Jetzt erst recht: Erotik, Helden, Service!
Ja, sind wir, die wir als Berlin-Kultur-ProduzentInnen der taz bisher die Seiten nur mit lokalen Kriegsberichten gefüllt haben und nichts von dem in allen Breitengraden bejubelten Schrillen und Schrägen der Berliner Kulturszene, dem kernigen Überlebenswillen der schon jetzt und in Zukunft subventionsgeschädigten Subkultur, den kritischen Untertönen der Varieté-Conférenciers und Ausstellungsfestredner (»ja, komisch ist der Zeitpunkt schon, aber dennoch und vielleicht gerade jetzt«), also rein gar nichts vom regen kulturellen Treiben hereingelassen haben, sind wir nicht alle gnadenlose Heuchler, die an ihrer Schwarze-Löcher-Betroffenheit irgendwann, spätestens heute, erstickt sind? Sollten wir uns nicht besser selbstkritisch an die Nase fassen, um weiterhin die Nase vorn zu haben (was wir hiermit tun)? Um überhaupt noch produktiv zu bleiben? Andere, und auch hier ist 'Max‘ richtungweisend, tun das schon längst: Wer hätte nicht wie 'Max‘-Held Armin Müller-Stahl »Lust auf Leben«, wer wollte dem »bei Feuilletonkritikern kaum wohlgelittenen Unterhaltungshelden« nicht die moralische Integrität abkaufen, wenn ihm zu Saddam Hussein, der »die Golfkrise lostrat«, selbstkritisch einfällt: »Und wir im Westen? Überlegen, welchen neuen Mercedes wir kaufen, während in Afrika Kinder verhungern.« Unterhaltungsheld Nummer zwei, Sting, geht sogar in der Selbstgeißelung noch weiter, wenn er, nach seinen Produktionsbedingungen gefragt, doch lieber »in einer kleinen Hütte mitten im Dschungel übernachten will, dort, wo es richtig heiß und dreckig ist« — auf der Suche nach dem »wirklichen Leben«. Während der kritische Popsänger also nur im Überlebenscamp (aktualisiert: im Wüstenloch) die LPs produzieren kann, würde er seinen Sohn »eher selbst erschießen, damit er nicht in den Krieg zieht«. Für Held Nummer drei, den Boxchampion Evander Holyfield, ist die Welt sogar noch einfacher. Seine Losung ist »boxen und beten«.
Ein Stellvertreterkrieg an der Heimatfront, in allen Kulturkanälen. Man kann sich ihm verweigern — was besser wäre — oder an ihm teilnehmen. Nur, man kann nicht angemessen reagieren, pietätvoll auswählen, was momentan zu verkraften ist: Tragödien, ernste Musik, Wort zum Sonntag. Noch ist Krieg, das gilt weiterhin. Trotzdem zirkuliert wie immer Kultur, wächst und verfällt kulturelle Arbeit, bitten die Produzenten um gnädige Beachtung: »Sehr geehrte Damen und Herren, die Lust bleibt uns treu, die Sehnsucht wird neu geschürt. – Du auch hast Wünsche, die antiquiert sind. – Auch du greifst in Momenten der Fassungslosigkeit zum Horoskop... Paradiesisches wird festgehalten im märchenhaften Countdown unserer Dekadenz«, so wirbt die Galerie Loulou Lasard für neosymbolistische Malerei. Seifenopern wechseln mit außergewöhnlichem Zelluloid, sprachlose Gesamtkunstwerke im vierten Raum mit dem Werbefoto eines sich gerade spritzenden Fixers. »Dynamisch, spritzig und immer einen Schritt voraus arbeitet der 24jährige Fotograf immer in dem Bestreben, seine bereits geschaffenen Arbeiten neu zu überbieten.Die berüchtigte Sterbehilfeorganisation »Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben — Regionalbüro Ost« lädt zur Eröffnung ihrer Galerie ein, zu Cartoons von Titus unter dem Titel Mitten im Leben... Illustrationsbeispiel: zwei Gasmasken beim Fototermin.
Sollen wir über all das pietätvoll schweigen? Zensieren? Behutsam begleitend ästhetisieren? Komödien- und kalauerrein parlieren? In Sachen kriegskritisch vorsortieren? Nein. Gerade jetzt muß auch für uns gelten: Erotik, Helden, Service. Das ist die Heimatfront — möge sich die Leserin mit ihr auseinandersetzen. Die Berlin-Kultur-Redaktion
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen