Knattern oder Mandelmilch

■ Eine Studie über die Wirkung des Futurismus in Deutschland

Walter Muschg beklagte in seinem 1961 erschienenen Buch Von Trakl zu Brecht, daß es bislang keine Studie über die Wirkung des italienischen Futurismus auf die deutsche Literatur gäbe. Seitdem sind einige Versuche zu diesem Thema erschienen; darunter Carmine Chiellinos Buch Die Futurismusdebatte; und Die Literatur des Expressionismus von Arnim Arnold; mehr als eine vorsichtige literaturhistorische tour d'horizon boten beide Bücher jedoch nicht. Peter Demetz, Professor für Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft in Yale, nutzte das Studenjahr 85/86 als Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin zu intensiven Recherchen; das Ergebnis: ein 150 Seiten langes Essay nebst 250seitigem dokumentarischen Anhang: Worte in Freiheit; Untertitel: Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912-1934.

Wer A sagt, muß auch B sagen; und so setzt sich Demetz in einem Vorwort zu seiner Studie polemisch mit dem Verhältnis Futurismus-Faschismus auseinander: Walter Benjamins Diktum, der Futurismus betreibe die Ästhetisierung des Faschismus, sei hierzulande ex cathedrahörig aufgenommen worden; seitdem werde der Futurismus mit dem Faschismus gleichgesetzt, was es erschwere, sich „nüchtern“ und „im Kontext der Geschichte“ mit den Wirkungen des Futurismus zu beschäftigen; die wenigen Ausnahmen (unter anderem Chiellino) würden nur die Regel bestätigen. Abgesehen davon, daß „nüchtern“ und „im Kontext der Geschichte“ Objektivität vortäuschende Leerformeln sind, wird es Demetz nicht entgangen sein, daß der Begründer des Futurismus, Filippo T. Marinetti, auf eine entsprechende Umfrage der 'Critica Fascista‘ im Jahre 1927 — also lange vor Benjamins Kunstwerkaufsatz — der griffigen Gleichung faschistische Kunst=Futurismus das Wort redete. Demetz hält sich aber zum Glück nicht an die polemische Vorgabe des Vorworts; schon die gewählte Form — Essay plus Dokumentation — zeigt, daß Demetz dann doch vorsichtiger ans Werk geht; eigentlich nur Konstellationen aufzeigen und das Schließen dem Leser überlassen möchte. Und in der Tat: Nach der Lektüre ist der Leser geneigt, Demetz darin zuzustimmen, daß die Gleichung Futurismus=Faschismus, zumindest was die deutschen Verhältnisse angeht, nicht stimmig ist.

Die deutsche, genauer, Berliner literarische Avantgarde um Herwarth Waldens 'Sturm‘ und Franz Pfemferts 'Aktion‘ gruppiert, reagierte (von zwei bezeichnenden Ausnahmen abgesehen) nur auf das ästhetische Programm der Futuristen; und dies auch noch kontrovers. Der spätere Dadaist Walter Serner beurteilte die Bilder der futuristischen Maler in Waldens „Sturm-Galerie“ als „jammervolle Sudelei“; Alfred Döblin hingegen begrüßte die Ausstellung, die vom 12. April bis 31. Mai 1912 dauerte und das erste Auftreten der futuristischen Bewegung in Deutschland überhaupt war, in einer Rezension für den 'Sturm‘ mit einem „deutlichen Ja“. Die 'Sturm‘- Ausstellung futuristischer Malerei blieb für die meisten Angehörigen der literarischen Szene des wilhelminischen Deutschlands der einzige Kontakt mit dem italienischen Futurismus. Die Rezeption dieser Bewegung verlief ansonsten indirekt; sie wäre ohne die Herausgeberaktivitäten eines Herwarth Walden, eines Fanz Pfemfert und die Übersetzungsleistung von Else Hadwiger gar nicht zu denken. Demetz' Studie versteht sich hier durchaus als Hommage an das oft abschätzig „Vermittlertätigkeit“ genannte Wirken dieser drei. Die vermittelnde Brechung war sicherlich einer der Gründe, warum sich die deutschen Autoren nur mit der Ästhetik des Futurismus auseinandersetzten: schlicht Unkenntnis über die Vorgänge südlich der Alpen. Da half es auch nicht viel, daß Marinetti in seinen im 'Sturm‘ veröffentlichten Manifesten keinen Zweifel daran ließ, daß die futuristische Bewegung mehr als nur eine ästhetische Revolution herbeiführen wollte: „Wir wollen den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt — den Militarismus, den Patriotismus...“ Alfred Döblins Reaktion auf das Sendungsbewußtsein Marinettis und der futuristischen Bewegung insgesamt steht hier paradigmatisch für die schwankende Haltung der deutschen literarischen Avantgarde: „Aber am schlimmsten sind Sie in Ihrer Monomanie, denn Sie sind monoman... Wir wollen doch nicht alle brüllen, schießen, knattern, Marinetti. Sie werden mir doch gestatten, eine heiße Mandelmilch zu trinken, oder eine Torte mit Sahne zu essen, oder Ihnen das Konzept zu verderben.“ Hier zeigt sich, welch glücklicher Einfall Demetz bewog, seinen Eassay mit einem dokumentarischen Anhang zu versehen: Die Originaltexte vermitteln besser als jeder Metatext, und sei er noch so subtil und essayistisch angelegt, die Vielschichtigkeit der Auseinandersetzung.

„Mann — Torpedoboot, Frau — Hafen“

Die futuristische Bewegung, vor allem in Gestalt der futuristischen Manifeste Marinettis, reüssierte in Deutschland weniger als es sich der umtriebige Marinetti vorstellen konnte und wollte. Er war mit seinen im 'Sturm‘ veröffentlichten Manifesten weniger der Verursacher eines deutschen Futurismus als der Verstärker und Beschleuniger von schon im Probelauf stehenden literarischen Experimenten. Marinettis Schlachtruf „parole in libertà“ schallte in offene Türen: die Aufforderung, die Worte aus ihrer lahmen, dem Postkutschenzeitalter angemessenen Syntax zu befreien, um mittels Substantivhäufungen, unter Verzicht auf Adjektive, Adverbien, finite Verbformen, zu einer assoziativen, schnellen, der Dynamik der Moderne angepaßten („Die große Tageszeitung ist die Synthese eines Tages der Welt“) simultan wahrnehmenden Prosa zu kommen — „geklirr tornister tatatata hufe nägel kanonen kisten peitschenschläge...“. Der zu Waldens 'Sturm‘-Kreis zählende Lyriker August Stramm hatte schon vor Marinettis „parole in libertà“-Poetologie mit Infinitivreihungen und rhythmisch sich wiederholenden Lautelementen gearbeitet; kurz, lyrische Experimente gestartet, die Marinettis Forderung nach einer asyntaktischen, assoziativen Wortkunst vorwegnahmen. Demetz räumt hier freimütig ein, daß es schwer einschätzbar ist, was hier Einfluß, was hier zufällige Parallele ist. Sicher ist, daß Marinettis Einfluß — wenn vorhanden — nicht linearkausal, sondern nur radikalisierend gewesen ist.

Radikalisierender Einfluß — das gilt auch für Alfred Döblins 1915 veröffentlichten Roman Wang-lun: „Maulaufreißen, Ächzen, Dumpfen, Knallen. Schweißdampf, dünne Blutsäulen, unregelmäßiger Rhythmus von Stille und Gebrüll.“ Das ist ohne Zweifel Nominalstil à la Marinetti. Daß dieser Nominalstil im Zusammenhang mit einer Schlachtbeschreibung auftaucht, ist auch kein Zufall: Döblin war vielleicht der einzige deutsche Leser von Marinettis französisch geschriebenem Schlachtengemälde Mafarka le Futuriste. Wie dieses „deutliche Ja“ Döblins zum Futurismus zu bewerten ist, brachte der Romancier und Kritiker Kasimir Edschmid schon 1918 zu einem Essay Döblin und die Futuristen auf den Punkt: „Döblin hatte das Programm [der Futuristen] nicht probiert, als er es lobte, und wie er es anpaßte, sprengte er es auseinander.“

Anpassungsprobleme gab es auch bei Hugo Ball. Der Mitbegründer des Züricher Dadaisten-Zirkels „Cabaret Voltaire“ hatte einst eine Antholoigie „futuristischer Tendenzen“ geplant. Die Sache zerschlug sich. Ab 1916 schrieb der mit Marinettis Thesen wohlvertraute Ball Klanggedichte; deren asyntaktische Machart war jedoch das einzige, was sie noch mit Marinettis Thesen verband. Ball konnte mit der Einschätzung Marinettis, dessen Poetologie sei Ausdruck eines sowohl geschichtlich wie kosmologisch wirksamen „Dynamismus“ nichts anfangen. Quer zu Marinetti verstand Ball seine Klanggedichte als Gegeninstanz zur Sprache der Moderne, die für Ball eine Sprache der Journaille war. Der späte Ball radikalisierte noch weiter. Er machte sich auf die Suche nach einer nicht mehr korrumpierbaren Sprache — und fand nur eine einzige: „die ächzende Stummheit der Fische“.

Daß der futuristische (marinettische) Einfluß vorhandene Tendenzen radikalisierte, zeigt sich auch bei Johannes R. Becher. Aus dem Isar- Auen-Romantiker („Dir Maria, süßes Leben“) war längst ein Großstadtlyriker geworden („Steil ob der Viadukte Schwung die rasendensten Kokotten“) als er Marinettis Programm und die futuristischen Gedichte Paolo Buzzis kennenlernte. Marinettis Vorschrift, mittels Substantivkombinationen überraschende Analogien herzustellen, klang gut — als Programm. Die lyrischen Beispiele indes, die Marinetti anführt, sind nicht sehr originell: „Mann — Torpedoboot; Frau — Hafen; Menge — Brandung; Tür — Ventil“; Bechers Zusammenstellungen: „Balkon — Gebisse; Plätze — Pickel; Postkarten — Horizonte; Lipp — Küsten“ sind, was die lyrische Substanz angeht, gehaltvoller. Aber auch noch in anderer Hinsicht übertrifft Becher die Futuristen; frei nach Döblin: „Gestatten, daß ich Ihnen das Konzept verderbe, Marinetti“, schreibt Becher im besten „futuristischen Stil“ eine Hymne an Lenin.

Bisher mag es scheinen, daß der künstlerische Eigensinn der deutschen Autoren dazu beitrug, die politisch totalitären Aspekte des italienischen Futurismus auszublenden. Demetz' Studie zeigt aber auch genau, wie rasch es anders kam, wenn die persönliche Erfahrung, die politischen und künstlerischen Präferenzen andere waren. Der nationalkonservative Schriftsteller Moeller van den Bruck sah in der futuristischen Bewegung einen Verbündeten gegen die „Krüppelwerte der Demokratie“. Und für den Triestiner Theodor Däubler, der einige Zeit der Florentiner Futuristenbewegung angehörte, war der Futurismus eine „italienische Jugendbewegung“. Demetz läßt die Wirkungsgeschichte des Futurismus in Deutschland mit dem Jahre 1934 enden. Es war das Jahr, in dem Hitler in einer Reichsparteitagsrede die Futuristen, Dadaisten und Kubisten zu den Feinden der deutschen Kunst zählte. Wenige Monate vorher hatte es jedoch noch Anbiederungsversuche gegeben. Der Walden-Mitarbeiter Ruggero Varsari versuchte als Herausgeber einer Schriftenreihe „Italien in Vergangenheit und Gegenwart“, das faschistische gleich futuristische Italien als Modell für Deutschland anzupreisen. Dann Benns berühmt-berüchtigte Rede als Akademiepräsident, in der er, „Eure Exzellenz Marinetti“ keineswegs mißverstehend, den „alten Stil“ des Futurismus lobte, der so vortrefflich zu einem „imperialen Weltbild“ passe. Die aufs Ästhetische verengte Wirkungsgeschichte des Futurismus in Deutschland hatte damit wieder Anschluß an eine der Quellen des Futurismus gefunden: der Absage an „Krüppelwerte“.

Auch Günter Grass ein Futurist?

Und damit kommen wir zu einer Frage zurück, die Demetz' Studie latent bestimmte: Läßt sich die futuristische Ästhetik aus ihrer Verquickung mit totalitären Gesellschaftsentwürfen herauslösen? Wenn ja: zu welchem Preis? Hören wir einen Augenblick Marinetti zu: „Der Bewohner eines Alpendorfs bangt jeden Tag durch die Zeitung angstvoll um die Aufständischen in China, die Suffragetten in London und New York, Dr.Carmel und die heroischen Schlitten der Polarforscher“. Das ist eine sehr präzise Beschreibung des Bewohners der Medienwelt des 20. Jahrhunderts: Zeitung und Funk, Satellitenfernsehen, Konferenzschaltungen lassen Raum und Zeitunterschiede verschwinden, was bleibt, ist die febrile Gegenwärtigkeit eines simultanen Erlebens. Ebenso präzise wie visionär auch Marinettis Folgerung, daß das Formenrepertoire der Künste darauf zu reagieren habe. Und es gibt in der Tat Passagen in Marinettis Manifesten, die sich als vorweggenommene Anweisung zu einer Video-Kunst lesen lassen. Aber es gibt eben auch noch den anderen Marinetti. In Mafarka le Futuriste lesen wir: „Seht meine abgehärtete Seele und meine Nerven, die vibrieren und sich unter einem unnachgiebigen und klaren Willen biegen. Mein Metall gewordenes Gehirn sieht überall scharfe Ecken in streng symmetrischen Systemen. Die künftigen Tage sind da vor mir, starr, gerade und parallel, wie die von den Heeren meiner Wünsche gut angelegten Militärstraßen.“ Hier kommen drei Dinge zusammen: Marinettis Technikgläubigkeit, eine Übermenschvorstellung, die sich einer mißlungenen Nietzsche-Lektüre verdankt, und Marinettis Beschäftigung mit dem Vitalismus Bergsons. Das ergibt eine grauenvolle Melange: ein zum Killerroboter gewordener èlan vital. Und genau hier ist die Versuchung groß, Marinetti, der hier stellvertretend für den Futurismus steht, durch zwei zu teilen: um den einen für die ästhetische Moderne, gar Postmoderne zu reklamieren und den anderen als ideologischen Ballast über Bord zu werfen. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo startete in einem Artikel in 'Lettre Internationale‘ Nr. 9., 1986,

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Le futur passé, einen Versuch in diese Richtung. Der Futurismus habe zu einer Konvergenz der Künste geführt: Malerei, Literatur, Mode, Bühnenausstattung, Musik seien im Futurismus über ihre Gattungsgrenzen gesprungen, damit sei ein Diskursaustausch in Gang gekommen, der postmodern zu nennen sei. Das Leidige am Futurismus sei dessen „Novismus“ gewesen; die Überzeugung, er, der Futurismus, sei der Inbegriff des Seins und damit der Pächter des Hegelschen Weltgeistes; ein Konzept, das zwangsläufig einen totalitären, diktatorischen Vollzug aus sich entlassen müsse.

Auch Demetz versucht eine ästhetische Ehrenrettung des Futurismus. Vielleicht verführt durch die bis 1933 recht moderate deutsche Wirkungsgeschichte des italienischen Futurismus knüpft Demetz ein Band zwischen Marinetti — Döblin — Grass. Und das hält ja auch — zunächst.

Grass spricht in Über meinen Lehrer Döblin von der „futuristischen Komponente“ in der Epik Döblins. Und er spricht auch darüber, wieviel er Döblin, inklusive „futuristische Komponente“ zu verdanken habe. Und es ist auch auch richtig, daß Grass mit dem Begriff der „Vergegenkunft“, die in seinen Romanen praktizierte Technik beschreibt, verschiedene Räume und Zeiten in eine simultane Gegenwärtigkeit zu überführen. Aber ist der von Grass geprägte Begriff der „Vergegenkunft“ wirklich, wie Demetz es uns nahelegen möchte, eine Übersetzung der futuristischen (marinettischen) „simultaneità“? Wir sind hier nicht auf Spekulationen angewiesen.

In der im Februar 1990 gehaltenen Rede Schreiben nach Auschwitz (eine Rede, die Demetz freilich noch nicht kennen konnte) präzisiert Grass den Begriff der „Vergegenkunft“: „Die Vergangenheit wirft ihre Schlagschatten auf gegenwärtiges und künftiges Gelände.“ Diese Definition ist von der futuristischen „simultaneità“, die mehr die hektische Gegenwärtigkeit der Medien und des Lebens in den Metropolen meint, nun doch zu weit entfernt, um noch als (spät)futuristisch reklamiert werden zu können. Auch ist der Begriff „futuristische Komponente“ bei Grass semantisch derart überfrachtet, daß man gut daran tut, ihn als Synonym für den von Döblin bevorzugten Begriff „Kinostil“ zu nehmen.

Demetz' Studie veranschaulicht mit diesem Versuch der ästhetischen Ehrenrettung des Futurismus ein Dilemma: Die Ehrenrettung gelingt, wenn man wie Vattimo und — allerdings vorsichtiger — Demetz das, was zu Beginn ein janusköpfiges Amalgam war, aus dem Ohrensessel der Gegenwart heraus „nüchtern“ und „im Kontext der Geschichte“ zur Kenntlichkeit seiner Bestandteile entstellt. Und so entläßt die Demetz-Studie — und das ist von ihr durchaus intendiert — den Leser mit dem unbefriedigenden Gefühl, daß die unter dem Stichwort „Futurismusdebatte“ aufgeworfene Frage — läßt sich die Ästhetik des Futurismus gegen dessen totalitäre Begleiterscheinungen in Schutz nehmen? — noch lange nicht beantwortet ist.

Peter Demetz: WorteinFreiheit— Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912-1934) , München-Zürich 1990, Piper-Verlag, 420 Seiten, 28,90 DM.