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Überhastete Geldentwertung sorgt für riesige Schlangen

■ Verzweifelte KleinsparerInnen in der UdSSR/ „Arbeit völlig gelähmt“

Moskau (dpa) — Chaos in den Banken, Verunsicherung in den Betrieben, Angst bei den Rentnern — die Währungsreform durch die Hintertür hat die Menschen in der Sowjetunion völlig unvorbereitet getroffen. Seit Mittwoch dieser Woche an sind alle 50- und 100-Rubel-Scheine — die Banknoten mit dem höchsten Wert — ungültig. BürgerInnen in vielen Städten bewegte am Mittwoch nur die eine Frage: „Wo werde ich meine großen Scheine los?“

Tausende Rentner und andere Bürger versuchten, die wertlos gewordenen Scheine umzutauschen. 'Tass‘ berichtete, vor verschlossenen Sparkassentüren in der Moskauer Innenstadt habe die Polizei Hunderte von aufgebrachten Bürgern beruhigen müssen. Schwarzmarkthändlern, Schmugglern und Schiebern will Gorbatschow das Geschäft verderben. „Ein Drittel aller Schwarzmarkt-Gelder werden in 50- und 100-Rubel-Scheinen gehortet“, so die offizielle Lesart. Sonderkommissionen sollen beim Umtausch entscheiden, ob das Geld rechtmäßig erworben wurde. Aber ein Moskauer Kommunalpolitiker sagte 'Tass‘: „Diese Sonderkomissionen sind noch nicht einmal gebildet.“

'Tass‘ bezeichnete die „Konfiszierungsvariante der Geldreform“ — die offiziell keine ist — als „wirksamste und die billigste von allen dem Staatsoberhaupt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten“. „Wenn ein bedeutender Teil des Bargelds aus dem Verkehr gezogen und zudem Abhebungen von Konten auf 500 Rubel im Monat beschränkt werden, wird die Geldmenge drastisch reduziert und die reale Kaufkraft des Rubel gestärkt“, heiß es bei 'Tass‘.

Praktisch bedeutet die Maßnahme offenbar einen Währungsschnitt. Jahrzehntelang mühselig mit 50- oder 100-Rubel-Scheinen gefüllte Sparstrümpfe sind wertlos geworden: ArbeiterInnen dürfen bis zu diesem Samstag maximal 1.000, RentnerInnen 200 Rubel in andere Geldscheine wechseln.

Auch die im Präsidenten-Erlaß formulierte Beschränkung, monatlich nur noch 500 Rubel von Konten abheben zu dürfen, wird die umlaufende Geldmenge drastisch verringern. Nach Ansicht westlicher Experten ist der Geldumlauf in der UdSSR nicht zu beziffern, aber er steht auf jeden Fall in keinem realen Verhältnis zum Warenangebot. Gorbatschows Maßnahme könnte also die Kaufkraft des Rubels stärken, wenn die Umtauschaktion funktionieren sollte.

Das bezweifelt der Chef der russischen Zentralbank, Georgi Matjuchin. Er sagte, der Präsidentenerlaß könne zumindest teilweise nicht realisiert werden. Er warnte vor einem Bankrott der russischen Sparkassen. Und: „Die einzige Möglichkeit, die soziale Explosion zu verhindern, wäre die Aufhebung des Erlasses.“ Die Umtauschaktion führe zudem zu einer „vorübergehenden, aber vollständigen Lähmung der Arbeit“, da die Sowjetbürger „drei Tage lang nichts anderes zu tun haben, als ihre Geldscheine loszuwerden“.

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