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Kein Massenmord — aus Mangel an Beweisen

In Siegen ist gestern der Prozeß um den Massenmord der Nationalsozialisten an Roma und Sinti zu Ende gegangen/ Ehemaliger Blockführer im „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau wurde zu lebenslanger Haft verurteilt — nach vierjährigem Prozeß  ■ Aus Siegen Bettina Markmeyer

Fast vier Jahre lang hat der heute 71jährige Ernst-August König aus Bad Berleburg im Saal 165 des Siegener Landgerichts auf der Anklagebank gesessen, vor ihm das große Modell des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Neben den Krematorien gelegen: der Teil BIIe, das „Zigeunerlager“. Hier war König von 1943 bis Anfang 1944 als Blockführer eingesetzt, hier erniedrigte, quälte und tötete er Häftlinge, hier trug er seinen Teil bei zum Massenmord an Roma und Sinti.

Gestern ging in Siegen der erste — und wohl auch letzte — große NS- Prozeß zu Ende, in dem die Verfolgung und Vernichtung von Sinti und Roma im Mittelpunkt stand. Das Siegener Schwurgericht unter Vorsitz von Dirk Batz verurteilte Ernst-August König zu lebenslanger Haft wegen Mordes in drei Fällen, in weiteren fünf Fällen wurde er freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen sprach das Gericht den ehemaligen SS-Rottenführer von dem Vorwurf frei, im Mai 1943 an Vergasungen von Roma und Sinti beteiligt gewesen zu sein. Ankläger Joachim Röseler, Oberstaatsanwalt und Leiter der nordrhein-westfälischen Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen in Konzentrationslagern, hatte in seinem Plädoyer eine Verurteilung Königs auch wegen Beihilfe zum Massenmord gefordert.

Eine Frau und zwei Männer, Sophia Weiß, Wolfgang Seeger und Oskar Schopper, die im „Zigeunerlager“ gefangen waren, hat König 1943 auf der Lagerstraße, im Block und während des „Häftlingssports“ zu Tode geprügelt und getreten. Das sei, so Richter Batz in seiner Urteilsbegründung, aufgrund von Zeugenaussagen erwiesen. König habe sich als „Herr über Leben und Tod“ aufgespielt und seine Opfer grausam getötet. An der Vergasung von mindestens 1.067 Roma und Sinti Ende Mai 1943, die der berüchtigte Zwillingsforscher Mengele angeordnet hatte, ist König möglicherweise — wie fast alle SS-Männer des Lagers — beteiligt gewesen, indem er die Menschen auf Lastwagen trieb. Die Zeugenaussagen hätten dies jedoch nicht zweifelsfrei belegen können.

Massenmord an Zigeunern gerichtlich festgestellt

Wenn auch die Beteiligung des Angeklagten am Massenmord nicht nachgewiesen werden konnte, so stellte in Siegen doch erstmals ein deutsches Gericht fest, daß die Nationalsozialisten die Vernichtung der Sinti und Roma „als rassenpolitisches Programm“ ebenso systematisch betrieben haben wie die der Juden. Himmlers „Runderlaß“ vom 8. 12. 1938, nach dem „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus in Angriff zu nehmen“ war, und sein „Auschwitz-Erlaß“ vom 16. Dezember 1942, der die Deportation der europäischen Roma nach Auschwitz-Birkenau befahl, zeigten, daß die Massenvernichtung Programm war. Beide Schriftstücke, so das Siegener Gericht, seien unwiderlegbare Belege, daß „die Zigeuner in Birkenau dem Vernichtungswillen der damaligen Machthaber unterlagen“.

Die Verfolgung der Roma und Sinti beginne jedoch schon in den 30er Jahren mit der Erfassung aller Zigeuner, der Einrichtung des „Rassehygienischen Instituts“ unter Leitung von Robert Ritter im Reichsinnenministerium, zahlreichen Erlassen zur sozialen Absonderung der Zigeuner und Deportationen in Konzentrationslager seit Ende der 30er Jahre. Eine halbe Million Roma und Sinti wurden Opfer der Nazis. Dem Siegener Prozeß, erklärte der Zentralrat deutscher Sinti und Roma gestern, komme „eine besondere Bedeutung zu für die historische Aufarbeitung der NS-Völkermordverbrechen an unserer Minderheit“.

Wie die meisten Prozesse gegen Naziverbrecher kommt aber auch der gegen Ernst-August König zu spät. Daß er überhaupt stattgefunden hat, ist auf die Beharrlichkeit des Zentralrats zurückzuführen. Gegen König wurde erstmals im Vorfeld des großen Frankfurter Auschwitz- Prozesses von 1963 bis 1965 ermittelt. Nach Auskunft des Nebenklage- Vertreters, Arnold Roßberg, lagen schon damals detaillierte Zeugenaussagen vor, daß König beim sogenannten Strafsport im „Zigeunerlager“ die Brüder Oskar und Max Schopper zu Tode gequält habe. Dennoch verschwand Königs Akte in den Schubladen. Auch 1979 konnte er sich unbehelligt als Zeuge im Jaworzno-Prozeß zu seinem Einsatz in Birkenau und im Auschwitz- Nebenlager Jaworzno äußern, obwohl ehemalige Häftlinge ihn erneut des Mordes bezichtigt hatten.

Anklageerhebung kam viel zu spät

Erst als der Zentralrat 1984 zufällig von den noch vorhandenen König- Akten erfuhr, erneut Zeugenaussagen sammelte und Anzeige erstattete, nahm Oberstaatsanwalt Röseler Ende 1984 die Ermittlungen auf, um im Sommer 1986 Anklage zu erheben. Der Siegener Prozeß, in dem über 160 ZeugInnen aus vielen Ländern gehört worden sind, war gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen zwischen den Nebenklagevertretern, also den Rechtsanwälten überlebender Opfer, und Königs Verteidigern, Fritz Steinacker, Georg Bürger und Horst Loebe. Alle drei sind eingeschworene NS-Täter- Verteidiger und traten in allen großen NS-Prozessen auf. In Siegen verfolgten sie vor allem zwei Ziele. Zum einen versuchten sie, die systematische Verfolgung und Vernichtung von Sinti und Roma abzustreiten. Grund für diese Taktik sind die Verjährungsfristen für Mord. Bis 1969 verjährte Mord nach 30 Jahren, Anfang der 70er Jahre hob der Bundestag die Verjährungsfrist auf. Für Morde vor 1945 gilt die Frist jedoch weiterhin, außer für NS-Verbrechen.

Zweitens versuchten die Verteidiger den Eindruck zu erwecken, König sei während der Zeit der angeklagten Taten gar nicht in Birkenau gewesen. Die Verteidiger ließen Dutzende von ZeugInnen befragen, ob König 1943 im Nebenlager Jaworzno eingesetzt war. Ihre Methoden — sie verschickten Fragebögen an ZeugInnen, in denen sie diese über den Gegenstand des Verfahrens täuschten — ließen den Naziverfolger Simon Wiesenthal und den Zentralrat im Oktober 1989 heftig protestieren und die Entpflichtung Steinackers fordern. Die Überprüfung des vermeintlichen Alibis verlängerte den Siegener Prozeß gegen den sich als gesundheitlich angeschlagen präsentierenden König um mindestens eineinhalb Jahre.

Ernst-August König bestritt in Siegen alle ihm zur Last gelegten Taten und verfolgte die Verhandlungen stets mit unbewegter Miene. Der Haftbefehl gegen ihn bleibt weiterhin ausgesetzt. Nach dem gestrigen Urteil konnte er mit Frau und Stiefsohn wieder nach Bad Berleburg fahren, wo er als Rentner lebt. Die Verteidigung wird vermutlich Revision dagegen einlegen, dann müßte der Bundesgerichtshof entscheiden.

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