Starke Verben, schwache Nerven

■ Von den Irrwegen eines arbeitslosen Lehrers, Sprachen zu lehren und zu lernen. Rüdiger Kind hat ihn begleitet

Von den Irrwegen eines arbeitslosen Lehrers, Sprachen zu lehren und zu lernen.

RÜDIGER KIND hat ihn begleitet.

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ans Kipp hatte eine gediegene Halbbildung, aber keine Arbeit. Als Lehrer für Deutsch und Sozialkunde gehörte er auch nicht unbedingt zu den Berufsgruppen, denen die Headhunter großer Unternehmen des Nachts auflauern. Doch dann bot ihm das Arbeitsamt eine Stelle als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache in einem der zahlreichen privaten Unterrichtsinstitute an, die ihre Existenz allein den Förderungsgeldern eben dieses Arbeitsamtes verdanken, das mit der Wiedereingliederung der Spätaussiedler die der arbeitslosen Lehrer zu verbinden hofft.

Plötzlich wurde er gebraucht, alle wollten ihn. Aber er wollte nichts und niemand — oder mußte es niemanden heißen? Nach sechs Monaten hatte ihm der Unterricht schon fast die deutsche Sprache verleidet. Und je länger er seine Schüler in die Anfangsgründe derselben einführte, desto mehr Fehler machte er. Fehler, die er früher, da war er sich sicher, nicht gemacht hatte. Oder war es ihm nur nicht aufgefallen? Jedenfalls, sein Widerwille wuchs. Außerdem konnten die meisten seiner Schüler ganz gut Deutsch. Als er Herrn Sugalla, einen älteren Schlesier, der perfekt Deutsch sprach, fragte, was er denn in Wroclaw gearbeitet habe, ging ein Sturm der Entrüstung durch die Klasse. Er habe in Breslau gelebt, entgegnete Herr Sugalla säuerlich, diese Stadt sei nämlich deutsch, und er solle sich das hinter die Ohren schreiben. Hans Kipp ließ daraufhin den Konjunktiv I üben: „Herr Sugalla aus Opole behauptet, Wroclaw heiße in Wirklichkeit Breslau. Frau Srkalla hingegen meint, Katowice sei heute viel schöner als früher Kattowitz.“ Die Schüler machten recht viele Fehler. Tags darauf quittierte Hans Kipp den Dienst.

Schluß. Aus. Fertig. Sein Nationalgefühl hörte an der Oder-Neiße- Grenze auf. Er konnte Deutsch, die Schüler (bis auf einige „echte“ Polen, von denen gemunkelt wurde, sie hätten sich das Deutschtum erschlichen) konnten Deutsch, was hatte er also hier verloren? Kein Beuthen, kein Hindenburg, kein Oppeln mehr. Keine trennbaren Verben mit Spät- und Scheinaussiedlern mehr, vorbei die unentwirrbaren Gesetze der deutschen Rechtschreibung.

Hans Kipp wollte ins Ausland, um dort alle Unsäglichkeiten, die diese verspießerten Reichsdeutschen ihm angetan hatten, zu vergessen. Arbeiten im Ausland, das war's. Doch dazu mußte er erst mal die Sprache lernen. Die entsprechenden Angebote waren so vielfältig, daß die Entscheidung nicht leichtfiel. Schattenboxen und Spanisch am Strand? Nein danke, er haßte die pralle Sonne. Töpfern in der Toscana? Das kam ihm zu bandkeramisch vor. Dann schon lieber Bechern in Burgund. Nein, er wollte kein Kombiangebot Sprache plus Selbstverwirklichung, sondern hartes, ehrliches Pauken, ganz altmodisch, ganz effektiv. Was Seriöses. Er entschied sich für einen Italienischkurs an der Berlitz School in Triest. James Joyce hatte hier Englisch unterrichtet, hier würde er von kompetenten Lehrkräften gediegene Sprachkenntnisse beigebracht bekommen. Vielleicht, und bei diesem Gedanken erzitterte er, würde ein zweiter Italo Svevo sein Lehrer sein und ihm den Genius der Italianita einhauchen. Und vielleicht würde sogar eine Muse den verborgenen Dichter in ihm wachküssen, wer weiß...

Die ersten Unterrichtsstunden in Triest ernüchterten ihn. Abends saß er in seinem billigen Pensionszimmer und brütete über Übersetzungsübungen wie: „Zeigen Sie mir die Stoffmuster. Wir haben einen Seidenstoff mit Streifen ausgesucht.“ Hans Kipp stönte. Er wollte hier doch nicht in den Textileinzelhandel einsteigen. „Wie lange bleiben die Herrschaften in Italien?“ „Wir werden nicht lange bleiben.“ Hans Kipp blieb nicht lange. Bei dem Übungstext: „In diesem bescheidenen Häuschen wohnte ein Millionär. Ihm gehörte auch der Palast dort“, stand sein Entschluß fest. Er würde noch morgen abreisen. „Tut es Ihnen nicht leid, abreisen zu müssen?“ nervt das Lehrbuch. Nein, nein, nein. Die erhofft gediegene Ausbildung hatte sich als total verschnarcht erwiesen.

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ielleicht sollte er es doch mit einer alternativen Sprachschule versuchen. In Firenze wurde er fündig. Das „Centro culturale e sociale Carmine Donatello Crocco“, benannt nach dem berühmten Briganten des 19. Jahrhunderts, machte auf Anhieb einen guten Eindruck auf Hans Kipp. Die Lehrkräfte, allesamt arbeitslos gewesene Lehrer, verstanden auch, den Unterricht für die buntgemischte Gruppe aus frustrierten Nordmenschen lebendig zu gestalten.

Nach einer kurzen Einführung in die Grammatik folgten Übungen im Lehrbuch, das gegenüber der Berlitz-Ausgabe leicht aktualisierte Texte enthielt. Bei der Passivübung: „In diesem bescheidenen Häuschen wohnte ein bekannter Waffenexporteur. Bis er von einem Kommando der ,Brigate rosse‘ hingerichtet wurde“, brach ein erbitterter ideologischer Klassenkampf los, dessen revolutionäre Energie, in einen Wärmewandler eingespeist, locker ausgereicht hätte, den eher unterkühlten Unterrichtsraum endlich mal anständig zu beheizen. Bislang friedvolle Lerner entpuppten sich als verbiesterte DKP-Genossen und wetterten gegen die anarchistischen Tendenzen des Textes. Zwei Ökofreaks von der Landkommune „Ottobre d'oro“, die hier ihre RAF-Sympathisanten-Vergangenheit unterpflügen wollten, fielen auf altterroristische Positionen zurück und bemängelten die legalistischen Tendenzen der DKPisten. Und Ute Freiboos schließlich, die Krankenschwester aus Mönchengladbach, mit der sich Hans Kipp bislang ganz gut verstanden hatte, brachte auch noch die Astrologie ins Spiel. Und das alles auf Italienisch. Es war grauenhaft.

Hans Kipp stieg aus und ging auf Arbeitssuche.

Wie er bald feststellen mußte, hatte er als Deutscher ohne perfekte Italienischkenntnisse auf dem überfüllten italienischen Arbeitsmarkt keine Chance. Ein paar Übersetzungen hier, eine Reportage für ein deutsches Stadtmagazin da, das war auch schon alles, was sich ihm an Erwerbsmöglichkeiten bot. Seine Ersparnisse, von denen er bislang gelebt hatte, gingen allmählich auch zu Ende. Irgendwie war das alles nicht so einfach, wie er es sich in Deutschland vorgestellt hatte. Er entschloß sich zu einem letzten Versuch. Er bewarb sich als Nachrichtensprecher bei Radio Vaticano. Und bekam die Stelle. Schluß mit den italienischen Konditionalformen. Vorbei die Hahnenkämpfe politischer Spätaussteiger. Alles, was er zu tun hatte, war, die deutschen Nachrichten für die Freunde des Katholizismus in aller Welt vorzulesen.

Doch dann, eines Sonntags bei den 12-Uhr-Nachrichten, spielte ihm sein altes antiklerikales Ego einen Streich: Statt die päpstlichen Verlautbarungen über das bedrohliche Anwachsen des Ozonlochs durch den Raubbau an den subtropischen Gummiplantagen vorzulesen, schickte Hans Kipp eine Nachricht in den Äther, die die Hörer in aller Welt nicht wenig verstörte: „Paris. Bei seinem Besuch in der französischen Hauptstadt wohnten eine Million Gläubige der Messe bei, die der Papst vom Eiffelturm aus zelebrierte. Am Ende seiner auf französisch gehaltenen Predigt spendete der Oberhirte allen Parisern seinen Segen und —“

An dieser Stelle stürzte Monsignore Carlucci, der Nachrichtenchef, herein und zerrte Hans Kipp vom Mikrophon. Die mobile Eingreiftruppe des Vatikans war alsbald zur Stelle und warf ihn in hohem Bogen vom heiligen Gelände.

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ieder arbeitslos, doch hochbefriedigt kehrte er nach Deutschland zurück. Seitdem hält ein innerlich gelöster, ja geläuterter Hans Kipp themenzentrierte Sprachseminare für ausländische Manager ab. „Konjugieren in Konstanz“, „Schwache Verben für Starkstromingenieure“, „Zeitenfolge im Warentermingeschäft“. Er kann ganz gut davon leben.