: Rote Armee wird Instrument der Innenpolitik
■ Gorbatschow ordnet gemeinsame Streifen von Miliz und Militär an und gibt dem KGB mehr Vollmachten für Kontrollen in den Betrieben/ Oppositionelle sehen darin Tendenz zur Diktatur bestätigt/ Erneute Drohungen in Litauen und Lettland
Moskau (dpa/taz) — Das sowjetische Militär und die Miliz sollen einem Befehl des Innen- und Verteidigungsministeriums in Moskau zufolge vom 1. Februar an in allen größeren Städten der UdSSR zum Teil bewaffnete Streifendienste durchführen. In ersten Reaktionen kritisierten die Magistrate von Moskau und Leningrad sowie einige Sowjetrepubliken diesen Befehl in aller Schärfe und wiesen ihn als „ungesetzlich“ zurück. Gleichzeitig räumte der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow dem Staatssicherheitsdienst KGB und dem Innenministerium der UdSSR per Dekret praktisch unbeschränkte Rechte zur Überprüfung aller Wirtschaftsunternehmen einschließlich der Joint-ventures und Geldinstitute ein.
Verteidigungsminister Dmitri Jasow und Innenminister Boris Pugo begründen ihren bereits am 29. Dezember beschlossenen Befehl mit der gestiegenen Zahl von schweren Verbrechen in der UdSSR. Bei den gemeinsamen und unter gewissen Bedingungen bewaffneten Patrouillen sollen die Miliz, die Truppen des Innenministeriums, die Miliz für besondere Aufgaben (OMON) und die sowjetischen Streitkräfte zusammenarbeiten. Ziel sei die „Erhöhung der Sicherheit der öffentlichen Ordnung und die Gewährleistung der militärischen Disziplin“.
„Wir können die Entartung des bestehenden Systems zu einer Diktatur nicht zulassen“, verurteilte der stellvertretende Moskauer Oberbürgermeister Sergei Stankiewitsch den Befehl vor Journalisten. Die Moskauer Stadtführung habe sich bereits an den russischen Parlamentspräsidenten Boris Jelzin und die Verfassungskommission des Obersten Sowjets der UdSSR mit der Bitte gewandt, die Rechtmäßigkeit der Anordnung zu überprüfen. Sollten die Maßnahmen wie vorgesehen zum 1. Februar eingeführt werden, rufe der Mossowjet (Moskauer Magistrat) die Bevölkerung auf, „den Befehl zu blockieren“.
Die 'Komsomolskaja Prawda‘ nannte den Befehl „verfassungswidrig“. Er trage „Elemente des Ausnahmezustandes“. Nach einem entsprechenden sowjetischen Gesetz vom 3. April 1990 könne allein das Parlament die Einführung des Ausnahmezustandes beschließen, schrieb das Blatt. Der litauische Vize-Premier Zigmas Vaisvila verurteilte die geplanten Maßnahmen als Verletzung der Menschenrechte und der Souveränität der Republik. Im Lenigrader Fernsehen lehnten der Oberbürgermeister der Stadt, Anatoli Sobtschak, und der stellvertretende Präsident des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow, den Befehl ebenfalls entschieden ab.
Die Streifensoldaten der Armee und der sowjetischen Flotte sollen bei „Massenausschreitungen“ oder „bei der Vorbereitung und Durchführung gesellschaftlich-politischer Maßnahmen“ (gemeint sind wohl vor allem Kundgebungen, Demonstrationen), an Feiertagen während der Abendstunden und abhängig von der Lage auch an Wochenenden bewaffnet sein. Die Patrouillen müssen dem Befehl zufolge in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Sowjetunion und der einzelnen Republiken sowie den Statuten der Streitkräfte erfolgen.
Der Erlaß „über Maßnahmen zur Sicherung des Kampfes gegen Wirtschaftssabotage und -verbrechen“ erlaubt ausdrücklich auch die Überprüfung sowjetisch-ausländischer Gemeinschaftsunternehmen. Ausgenommen sind diplomatische Vertretungen. Die Ermittler von Innenministerium und KGB können Einsicht in alle für ihre Untersuchungen notwendigen Geschäftsunterlagen verlangen.
Präsident Gorbunovs beschuldigt Kommunisten
Der lettische Präsident Anatolijs Gorbunovs hat der Kommunistischen Partei seiner Republik die Planung einer illegalen Machtübernahme vorgeworfen. Im lettischen Rundfunk sagte Gorbunovs am Samstag abend, der lettische KP- Führer Alfreds Rubiks habe den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow in einem Brief aufgefordert, ein nationales Versöhnungskomitee einzusetzen, das vorübergehend die Regierungsgewalt in Lettland übernehmen solle. Das sei aber verfassungswidrig. Er sei aber bereit, mit allen politischen Kräften über die Wahrung des Friedens zu verhandeln. Auch die litauische Regierung hat am Wochenende erneut ihre Bereitschaft bekundet, mit Moskau über alle strittigen Fragen zu verhandeln. Der sowjetische Militärbefehlshaber von Wilna, Generalmajor Wladimir Ußchobtschik, warnte die litauischen Behörden unterdessen vor einer wachsenden Ungeduld seiner Soldaten. Die Lage in der Garnison sei kaum noch unter Kontrolle zu halten und die litauische Polizei offenbar nicht in der Lage, die Ordnung zu gewährleisten. „Ich weiß nicht, ob dies eine Drohung oder nur eine Befürchtung ist“, sagte Azubalis, „aber ich weiß, daß es sehr gefährlich ist.“ In der Nacht zum Sonntag kam es an einer Straßensperre der sowjetischen Streitkräfte bei Wilna zu einem Zwischenfall, bei dem auch Schüsse fielen. Dabei wurde ein litauischer Arbeiter verletzt.
Nach einer Meinungsumfrage treten 93 Prozent aller Einwohner Litauens für die Unabhängigkeit ihrer Republik von der Sowjetunion ein. Dafür sind 98 Prozent der Litauer, 75 Prozent der dort lebenden Russen und 66 Prozent der Polen.
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