: „Dirty Harry“ bleibt nichts erspart
Prozeßbeginn gegen den ehemaligen FDGB-Boss Harry Tisch/ Antrag auf Einstellung des Verfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit abgelehnt/ Beweisaufnahme beginnt am Donnerstag ■ Von Martin Kempe
Berlin (taz) — Einst war Harry Tisch einer der mächtigsten Männer der DDR. Gestern betrat er mit schleppendem Gang den Gerichtssaal B129 in Berlin-Moabit. Er ist sichtlich hinfällig. Kaum waren seine Antworten zu verstehen, als der Vorsitzende Richter Hans-Jürgen Herdemerten ihn zur Person befragte: Harry Tisch, 63, von Beruf Bauschlosser und ehemaliger Boss des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) der DDR ist angeklagt, Mitgliedsgelder des FDGB in Millionenhöhe zu privaten und sachfremden Zwecken selbstherrlich abgezweigt zu haben. Und in einer ersten Entscheidung stellte das Gericht gestern klar: Er wird seine Schmach, den tiefen Fall vom selbstherrlichen Chef über 10 Millionen Gewerkschaftsmitglieder zum Angeklagten eines Strafprozesses bis zur Neige auskosten müssen. Ein Antrag der beiden Verteidiger Tischs, das Verfahren wegen der angegriffenen Gesundheit des Angeklagten einzustellen oder zumindest vorläufig auszusetzen, wurde abgelehnt.
Die Verteidigung war gleich zu Beginn der gestrigen Verhandlungen in die Offensive gegangen: Sowohl die Ermittlungen gegen Tisch als auch seine Untersuchungshaft in der ehemaligen DDR hätten rechtsstaatlichen Gesichtspunkten genügt. Die Verteidigung habe damals phasenweise keinen Zugang zum Angeklagten und zu den Ermittlungsakten gehabt, die Vernehmungen seien von namentlich unbekannten Stasi-Leuten vorgenommen worden und hätten der damaligen DDR-Führung vor allem zu propagandistisch-politischen Zwecken gedient. Wenn das Verfahren nun auf Unterlagen der alten DDR-Justiz aufbaue, sei ein rechtsstaatliches Verfahren nicht möglich. Aus diesem Grunde müsse das Verfahren eingestellt werden.
Tisch verfügte laut Anklageschrift über Mitgliedsbeiträge der FDGB-Mitglieder wie ein Feudalherr über die Abgaben seiner Untertanen. Er war Mitglied des Politbüros der SED, ein Vertrauter Honeckers, ein Machthaber mit Hofstaat und häufig überhöhtem Alkoholspiegel, der leutselig zu repräsentieren wußte. Nicht wenige Westgewerkschafter in höchsten Positionen haben sich — in Harry Tischs Residenz am Märkischen Ufer empfangen — in seinem Gästehaus verwöhnen lassen. Heute ist Harry Tisch ein einsamer Mann, seit Dezember 1989 in DDR-Untersuchungshaft, zwischendurch für einige Monate freigelassen, im Juli 1990 wieder inhaftiert. Am Tag nach der Vereinigung, am 4. Oktober 1990, wurde er in die U-Haftanstalt in Berlin-Moabit gebracht. Später wurde er wegen seines labilen Gesundheitszustandes in das Haftkrankenhaus Plötzensee verlegt. Schon in DDR-Haft, so Tischs Ostberliner Anwalt Matthäus, habe der ehemalige FDGB-Boss einen leichten Schlaganfall erlitten.
Im Prozeß gegen Harry Tisch geht es weniger um die Staatsverbrechen der DDR-Führung, um Menschenrechtsverletzungen, um Stasi- Schnüffelei und Schießbefehl, sondern um die kleinkarierte Seite des DDR-Privilegiensystems. Er wird angeklagt, selbstherrlich 100 Millionen DDR-Mark an die FDJ rüberheschoben zu haben, um deren Weltjugendfestival zu finanzieren. Außerdem soll er für mehr als vier Millionen Mark ein fast ausschließlich privat genutztes Feriendomizil in Mecklenburg ausgestattet haben. Und die Urlaubreisen mit seinem Freund Günter Mittag hat „Dirty Harry“ auch, so die Staatsanwaltschaft, nicht selber bezahlt.
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