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Die Herrschaft des Chaos rückt näher

■ Interview mit Sergio Andreis über den ideellen und materiellen Profit aus dem Krieg/ Nichtregieren als Politikersatz

Andreis, 38, studierte u.a. In Berlin Philosophie und ist außen- und wehrpolitischer Sprecher der italienischen Grünen. Als Kriegsdienstverweigerer (bis in die 80er Jahre nach dem italienischen Strafrecht eine Straftat) saß er acht Monate in Gefängnis.

taz: Der Pazifismus wird, nicht nur in Italien, von den Regierenden derzeit fast als Kriegsschuldiger gebrandmarkt. Wird die Propaganda diesen Krieg zumindest „zu Hause“ gewinnen?

Andreis: Natürlich müssen die Politiker, die für eine angebliche internationale Polizeiaktion gestimmt haben — formell ist ja der Krieg gar nicht erklärt worden — ständig Siegesschreie ausstoßen, auch wenn am Ende nur der Tod siegen kann. Ich halte allerdings das derzeitige Klima von Zensur und Propaganda eher für ein Zeichen von Schwäche — die Schreier erkennen, daß das ganze auch für sie zur Katastrophe werden wird. Genauso wie es ein Zeichen der Schwäche ist, daß der Westen zusammen mit einigen arabischen Staaten unbedingt militärisch intervenieren wollte. Wenn man schwach ist, greift man halt zu den Waffen. Es wird wohl Jahre großer Instabilität geben, und das hier sind die Vorboten.

Wer hat an einer solchen Instabilität Interesse?

Natürlich ist da zunächst einmal das Interesse der Kriegsindustrie, die aufgrund der Abrüstungsverhandlungen in gewaltige Krisen geraten sind. Doch auch auf einer anderen Ebene suchen bestimmte Leute Nutzen aus dem Krieg zu ziehen, etwa indem sie verlorenes ideologisches Terrain wiederzugewinnen trachten.

Soll heißen?

Nachdem das vorher gängige Modell des die globalen Beziehungen dominierenden Ost-West-Konflikts zusammengebrochen ist, suchen die professionellen Ideologen nach einer neuen Polarisierung.

Das geht um so leichter, je besser sich einer wie Saddam Hussein verteufeln läßt und seine Figur, völlig zu Unrecht, als prototypisch für die Führer in anderen Ländern des unterentwickelten Südens gesetzt wird. Doch die alten Mittel, etwa der lokal begrenzte oder der kalte Krieg, haben schon beim ersten Nord-Süd- Konflikt versagt. Die derzeitige Krise ist für alle völlig neu. Daß dieser Krieg ausgebrochen ist, halte ich für ein Zeichen der Irrationalität, des Nichthandelns, des Nichtregierens und Reagierens auf die Konflikte in den internationalen Beziehungen. Und das ist besonders beunruhigend.

Inwiefern?

Weil bisher niemand rationale Erklärungen für den Kriegsausbruch und genausowenig rationale Perspektiven für die Zukunft, d.h. für das Ende des Krieges mittels rationaler Handlungsweisen aufzeigen konnte. Daß wir inmitten einer Phase der Entspannung wieder in Kriege zurückfallen, läßt weitere analoge Konflikte, neue Gewaltbereitschaft, Inhumanität und das Sich-Abfinden mit ökologischen Katastrophen erwarten.

Mehr noch: Alles tendiert zu einer noch massiveren Nichtregierbarkeit, Nichtlenkbarkeit internationaler Auseinandersetzungen. Gorbatschow hat das übrigens schon in seinem Buch Perestroika vorausgesagt — als Herrschaft des Chaos.

Wenn es auch keinen wirklichen Sieger geben wird, gibt es doch viele Aspiranten auf Kriegsgewinne. Wer ist das alles?

Allgemein gesagt sind es diejenigen, die derzeit besonders laut schreien und den Pazifisten sogar eine Art Kriegsschuld zuschieben, weil diese den Frieden über alles stellen.

Doch merkwürdigerweise sind das heute vor allem Politiker und Ideologen, und — zumindest bei uns — viel weniger die Industrie. FIAT- Agnelli z.B., selbst durchaus im Waffengeschäft, hat den Ausbruch des Krieges als auch seine Niederlage klassifiziert. Das europäische Kapital hat überwiegend auf eine friedliche Lösung gesetzt und sieht den Kriegsausbruch als Niederlage gegen die amerikanischen Waffenkonzerne.

Neben Engländern und Franzosen fliegen aus Europa nur noch die Italiener Einsätze, allerdings mit deutlicher Unlust. Steckt da Politik dahinter oder ist es mehr Zufall?

Ich denke, daß unsere Regierung die Soldaten eher als Alibi gegenüber den USA vorschickt, gleichzeitig aber das Terrain für den Wiederaufbau bereiten will. Wie damals im Krieg Iran-Irak, wo Italien beiden Seiten immer schön gleich viel Waffen geliefert hat und dann dicke ins Rekonstruktionsgeschäft eingestiegen ist — sehr zum Verdruß Genschers, der zwei Tage später als unser damaliger Außenminister Andreotti in Bagdad ankam. Ich denke, daß unsere Regierung genau diesen Kurs einschlagen will, Kriegsgewinnler mit Perspektive also.

Das Gespräch führte Werner Raith.

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