Spätlese

■ Lienhard Wawrzyn: Der Blaue. Das Spitzelsystem der DDR

Lienhard Wawrzyn: Der Blaue. Das Spitzelsystem der DDR. Wagenbach TB, 165 S., 15 DM

Wenn die Geschichte es eilig hat, laufen die Texte hinterher, und manche bleiben auf der Strecke. Um dieses Traktätchen wäre es dabei nicht schade, erwähnenswert macht es allein der Umstand, daß es im aus guten Gründen wohl beleumundeten Wagenbach Verlag erscheint. Der Autor, ein westberliner Regisseur, hat sich aufgemacht, in der Seele seiner ehemaligen Nachbarn aufzuspüren, welch Tücke uns Menschen zu eigen ist. Er hat „angefangen, zu recherchieren, um die einmalige Chance zu nutzen, hinter die Kulissen eines modernen Geheimdienstes zu blicken, der noch kurze Zeit zuvor Menschen in Angst, Schrecken oder kritische Distanz zu ihrem Staat versetzt hat“. Das Vorhaben selbst ist also unbekümmert naiv und von wenig Zweifel angekränkelt, ob es denn einem Laien und Außenseiter ohne privilegierten Zugang zu etwaigen Dokumenten oder gar Geheimnisträgern möglich sei, „hinter die Kulissen eines modernen Geheimdienstes zu blicken“. Die DDR mag in vieler Hinsicht gewisse Standards der BRD nicht erreicht haben, aber die offenbar zugrundeliegende Vorstellung, auch ihr Geheimdienst sei so dilettantisch organisiert wie manche LPG, nimmt mich doch wunder. Und wie ist das Wunder verwirklicht worden? „Ich habe angefangen zu recherchieren und mir entlang von Spitzel-Lebensläufen einen Zugang ins Zentrum der DDR—Mentalität gebahnt.“ Was es so alles gibt — ein Zentrum einer Mentalität, und zwar die eines ganzen Volkes. Der Autor hat sich in seinen zahllosen Interviews „bewußt nicht konspirativ oder geheimnistuerisch verhalten. Jeder meiner Gesprächspartner wußte, wer ich bin, was ich mache und was ich vorhabe.“ (Laut Verlagswerbung wiederum hat Lienhard Wawrzyn „sich eingeschlichen in die innersten Kreise der Stasi“...) Wie stellen wir uns das vor? Der Autor bekommt über verschlungene Wege, die er aufrechten Ganges durchlaufen hat, beispielsweise die Adresse eines „hochrangigen Mitarbeiters des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit“. Dem erzählt er offenen Auges von seinem Projekt der Wahrheitsfindung, und dann — ja, dann setzt sich so einer hin und erzählt seinen ganzen „Spitzel-Lebenslauf“ treuherzig einem Autor, von dem er zwar kein Geld bekommt, der aber, „ähnlich wie ein Psychoanalytiker, ein neugieriger, einfühlsamer Zuhörer war. Meine Gesprächspartner haben mich weiterempfohlen.“ Das freut uns aber sehr.

Was bei solcherart „Recherche“ bestenfalls herauskommen kann, ist unredigierter O-Ton, dessen Beglaubigung den LeserInnen überlassen bleibt. Was schlechtestenfalls herauskommt, liegt uns mit diesem Buche vor, das einen Vorabruck in 'Bunte‘ oder 'Quick‘ durchaus wert gewesen wäre. Denn der Autor hat — ganz Psychoanalytiker — weder analytische Anstrengung noch interpretatorischen Fleiß gescheut, um uns mit Kapiteln wie „Zur Psychologie des Spitzels“ und „Die Artenvielfalt der Stasi-Spitzel“ einen tiefen Einblick ins erwähnte Zentrum der Mentalität des Volkes zu geben. Das liest sich dann unter der Überschrift „Der Listige“ wie folgt: „Er braucht keine echten Freunde, dafür viele Beziehungen und Leute,die sich für seine Freunde halten. Oft erlaubt ihm sein Charme, wirklich empörende Dinge zu sagen. Häufig ist er weltläufig, geistig sehr beweglich. Er hat gelernt, daß es nicht wichtig ist, zu lieben, um geliebt zu werden, sondern daß man sich holen muß, was man haben will.“ (Den letzten Satz sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen. Es lohnt sich.) Diese abenteuerliche Mischung aus dem ewigen Heyne-Ratgeber „Welches Sternzeichen paßt zu mir?“ und psychologischen Gemeinplätzen der Gegenwart empfiehlt sich die Lektüre allenfalls aus einem Grund. Zur definitiven Beantwortung der Frage von Kapitel 10: „Wie heirate ich meinen Führungsoffizier?“