: Grand Hotel Abgrund
Zum 18. Internationalen Comic-Salon im französischen Angoulême ■ Von Martin Frenzel
Das Mekka der bunten Bilder berauschte sich im 18. Jahr an der Möglichkeit des eigenen Untergangs. Ob der internationale Comic-Salon im südwestfranzösischen Angoulême noch eine Zukunft hat, beschäftigte die Gemüter schon seit Monaten. Doch der Tanz auf dem Vulkan scheint nun — glaubt man dem feierlichen Schlußwort des neuen konservativen Oberbürgermeisters Georges Chavanes — endlich ein Ende zu haben: Angoulême ist tot, Angoulême wird leben. Angoulême glich ob eines gewaltigen Finanzdefizits von 2,7 Millionen Francs einem „Grand Hotel Abgrund“: Um ein Haar wäre das weltweit wichtigste Multimediaspektakel rund ums Medium des grafischen Erzählens in Schönheit gestorben.
Sanierungsbemühungen der Verantwortlichen der hochverschuldeten Stadt Angoulême auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 1990 (ein alternierender Rhythmus mit dem Konkurrenz-Comic-Festival von Grenoble war bereits beschlossene Sache) ernteten einen wahren Proteststurm der Bevölkerung: Nun soll Angoulême, das Cannes der Comics, doch wie üblich auch in Zukunft jedes Jahr die Comic-Enthusiasten in seinen Bann ziehen. Eine endgültige Entscheidung über die Zukunft des traditionsreichen Comic- Salons fällt freilich erst Ende Februar. Dann nämlich haben die kapitalkräftigen Sponsoren das Wort.
Mehr als 150.000 Besucher rechtfertigten auch diesmal die Vielfalt des Programms. 27 Ausstellungen, Podiumsdiskussionen, Zeichentrickfilme nonstop und die geballte Präsenz der Comic-Verlage aus aller Welt (über 200 Stände in den Riesenzelten am Place de New York und im Champ des Mars) gehörten schon zum Standardrepertoire. Trotzdem stand Angoulême 91 weithin im Schatten des Infernos am Golf: Sowenig Besucher wie lange nicht mehr (bis dato: mehr als 250.000), verschärfte Sicherheitskontrollen an den Eingängen und nervöse Sicherheitskräfte prägten die Atmosphäre dieses ohnehin in (intern bedingter) Endzeitstimmung abgehaltenen europäischen Comic-Ereignisses.
Eigentlich sollten sie die offiziellen „Gastgeber“ von Angoulême sein, aber von den dreißig eingeladenen japanischen Comic-Schaffenden wagten aus Angst vor Bombenattentaten im Flugzeug lediglich drei die Reise von Tokio nach Frankreich. Interessierte mußten daher im „Centre National de la Bande Dessineée et de l'Image“ (C.N.B.D.I.) mit der gut dokumentierten, aber viel zu klein geratenen Ausstellung Mangavision vorliebnehmen. Japan, mit jährlich 1,5 Milliarden verkauften „Mangas“ (wie die Comics auf japanisch heißen), der größte Comic- Markt der Welt, verfügt über eine lange, jahrhundertealte Bildergeschichten-Tradition. Anders als in Deutschland sind die Comics im Land der aufgehenden Sonne kulturell akzeptiert. Die „Mangas“ bilden nicht nur einen enormen Wirtschaftsfaktor, sie finden sich in nahezu allen Lebensbereichen (bis hinein in den Schulunterricht, wo die Pennäler aus den „Mangas“ Wissenswertes über Freud, Keynes und Marx erfahren). Daß die japanischen Serien (die auch und gerade von Erwachsenen goutiert werden) ein für europäische Augen ungewohntes Maß an roher Gewalt präsentieren, ist nur eine Facette des Bestsellerphänomens „Manga“: Nicht zuletzt Keiji Nakazawas erschütternde (und im übrigen brandaktuelle) Bildergeschichte gegen den Krieg Barfuß durch Hiroshima (Rowohlt Verlag) zeigt, mit welch dynamisch-pittoresken Stilmitteln und intelligenter Dramaturgie der Erzählweise japanische Comic-Autoren so manchem „abendländischen“ Kollegen den Rang ablaufen.
Der Walt Disney Japans
Ein typischer Repräsentant des „Manga“-Booms (ihr Anteil an den japanischen Druckerzeugnissen liegt bei knapp 40 Prozent), Osamu Tezuka, darf mit seiner Funny-Massenproduktion als eine Art „Walt Disney Japans“ gelten (Serien wie Tinka, Astro Boy usw.).
Humor-Comic-Künstler wie Fejio Akatsuka, Tetsuya Chiba und das Dui Fujio/Fujiko sind dagegen westlichem Publikum völlig unbekannt. Gleiches gilt auch für aus der japanischen Massenzeichenware herausragende Erwachsenen-Comic- Zeichner wie Ryoichi Ikegami, Shotaro Ishimori und Shigeru Mizuki, dessen sechsbändige Geschichte des modernen Japan 1988/89 beim japanischen Comic-Multi Kodansha erschien. Mizuki, geboren am 28.März 1924, kreierte zuvor (1973) auch eine antimilitaristische Comic-Serie namens Soin Gyokusai Seyo. Topstar der „Mangas“ ist jedoch nach wie vor der bald 37jährige Katsuhiro Otomo, dessen 2.120 Seiten starkes, postatomares Fantasy- und Metaphysik-Opus Akira allein in Japan bisher 3,5Millionen Mal verkauft wurde. Fünf von sechs Akira- Büchern sind beim Kodansha-Konzern publiziert. Die atemberaubende, ungemein filmische Inszenierung des grafischen Layouts, der intensive Gebrauch von „Kamerafahrten“ und „speed lines“ und das hohe Tempo der Handlung (allesamt typische „Manga“-Effekte) hat Otomo in brillanter Manier mit dem westlichen Einfluß eines Moebius verknüpft.
Die Präsentation des 1988 produzierten Zeichentrickfilms Akira im C.N.B.D.I. dürfte sein Ansehen beim europäischen Auditorium noch gesteigert haben. Die Story des 1984 entstandenen Akira-Zyklus' spielt im postatomaren Neo-Tokio des Jahres 2038: Dort herrscht blutige Bürgerkriegsatmosphäre, rebellierende Studenten gegen repressive Militärs, religiöse Sekten und obskure Wissenschaftler erzeugen eine explosive Mischung. Tokio erscheint als düster-bedrohliches „Metropolis“ (und — zumindest im Film — man fühlt sich nicht selten an das bombardierte Bagdad erinnert). Allen geht es nur um eines: die Kontrolle über die Macht des Jungen „Akira“, der Inkarnation der Omnipotenz und des Universums. Antihelden des Akira- Epos' sind die Mitglieder einer halbstarken Motorradgang, die ständig zwischen den Kriegsfronten der Millionenmetropole operieren.
Das Cannes des Comics
Nachdem Akira in den USA reüssierte, steht nun die deutsche Erstveröffentlichung an: Akira wird — nach hartem Lizenzgerangel zwischen Ehapa und Carlsen — ab April in 17 Bänden (je 120 Seiten in den Farben der US-Ausgabe) beim Hamburger Carlsen Verlag erscheinen.
Ob die Bonner Bundesprüfstelle mit ihrer Zensur zuschlägt, wird sich zeigen. (Zur Japan-Ausstellung in Angoulême ist auch ein Katalog erschienen: L'Univers des Mangas von Thierry Groenstean.)
Neu eröffnet wurde der gläserne Musentempel C.N.B.D.I.: Tausende Besucher staunten nicht schlecht übers nagelneue Comic- Museum, das die Geschichte der frankobelgischen Comics von den Anfängen (unter anderen Hergés Tim und Struppi) bis heute mit 2.500 Originalzeichnungen in Glasvitrinen präsentiert. Zudem glänzten die Aussteller wieder einmal mit besonderen Performance-Gags: eine überlebensgroße, aus der Wand „fliegende“ Plastik der bekannten Figur „Superdupont“ (von Solé/Gotlib/ Lob) oder ein sich vor einer Explosion schützend die Hand vors Gesicht haltender „John Difool“ (Moebius- Fantasy-Serie) mitsamt dessen Möwe. Das C.N.B.D.I., Europas einzige multifunktionale Comic-Institution (mit Mediathek und 150.000 Dokumenten, umfassender Datenbank und Atelier für Comic- Studenten für Computer- und Animationsgrafik, Kongreßzentrum und Ausstellungen das ganze Jahr über), ist damit endgültig komplett. Der erste Stock des millionenschweren Comic-Glastempels beherbergte die Werkschau Ein Jahr im europäischen Comic, darunter die Sektion „Deutschland“ mit den Exponaten von Brösels Werner über Ralf Königs Killerkondom-Inspektor Luigi Mackeroni bis hin zu Matthias Schultheiß' St. Pauli-Thriller Night Taxi.
Der Hauptpreisträger des Vorjahres, Max Cabanes, einer der Comic- Stars in Frankreich, gestaltete im St.Martial-Zentrum eine Werkschau — nicht zuletzt mit Originalen aus seinem Spätwerk Collin-Maillard (Herzklopfen, deutsch bei Carlsen), das das Frühlingserwachen Jugendlicher an der Côte d'Azur in warmen Aquarellfarben erzählt. Und Altmeister René Coscinny (1926-1977) war an gleicher Stelle postum eine Ausstellung zum 65.Geburtstag gewidmet: Der Vater von Asterix, Lucky Luke, Isnogud und Der kleine Nick (um nur einige zu nennen) sucht bis heute als genialer Comic-Szenarist und Virtuose des hintergründigen Humors seinesgleichen. Ebenfalls zu sehen waren die exzellente Ausstellung über Kunstzitate im Comic Mit Picasso macht man Kasso (Mitte 1990 bereits im Zürcher Museum für Gestaltung), eine Ausstellung der Comic-Zeichnerin Florence Cestacs: Illustrationen zum Klassiker Der Krieg der Knöpfe. Dazu noch eine Kabinettausstellung mit Stilleben von Loustal (dessen Gesamtwerk beim Verlag Schreiber & Leser in München erscheint). Loustals jüngster Wurf, die Manhattan-Gangster-Geschichte Die Brüder Adamov (Text von Charyn) erscheint ebenfalls bei Schreiber & Leser.
Im Herbst 1990 ließen sich sechs bekannte französische Zeichner (freiwillig) ins „Musée Ingres“ von Montaubau einschließen: Baru (sein in Angoulême preisgekröntes Album Chemin d'Amérique erscheint als Der Boxer bei Carlsen, Thema: Algerienkrieg), Boucq (dessen KGB- Thriller Das Teufelsmaul demnächst bei der Edition Kunst der Comics erscheint), Max Cabanes, Ferrandez (Algerisches Tagebuch, Carlsen), André Juillard (Arno, comicplus) und Tripp (Anti-Apartheid-Comic Zoulou Blues, Edition Moderne) ließen sich in ihrem „Gefängnis“ zu musealen Großtaten inspirieren (Katalog Le Violon et l'Archer, Casterman).
Die Podiumsrunde mit der Frage, ob denn die Zukunft des europäischen Comics in der Internationalisierung liegt, beantworteten die Diskutanten positiv. Der international renommierte Comic-Künstler Regis Loisel machte in Angoulême mit seiner auf sechs Bände angelegten Comic-Adaption von Peter Pan von sich reden. Der 39jährige hat damit mal poetisches, mal trauriges, aber in jeder Hinsicht epochales Comic- Kunstwerk geschaffen (erscheint ab Mai im Stuttgarter Ehapa Verlag).
Daß Literatur und Comic eine gelungene Synthese eingehen können, beweist im übrigen das Werk des allzu früh verstorbenen Venezianers Dino Battaglia (1923-1983): Der Berliner Altamir-Verlag hat bisher zwei „Literaturcomic“-Bände Battaglias mit Comic-Adaptionen von Büchners Woyzeck und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (Olimpia) sowie Das öde Haus ediert. Battaglias melancholisch-verhaltene Adaptionen — schon im italienischen Original eine Sensation — liegen damit erstmals in deutscher Sprache vor.
Die beiden Exil-Argentinier José Munoz und Carlos Sampayo haben in Frankreich längst Furore gemacht; jetzt sollte man sie auch hierzulande „entdecken“: Bis dato sind vier Bände des Licht- und Schattenkrimis um den New Yorker Privatdetektiv Alack Sinner erschienen (Joe's Bar, Moses Man, Der Boxer, Viet Blues und Billie Holliday). Munoz' vom deutschen Expressionismus und der scharfen Sozialkritik eines George Grosz beeinflußter Schwarzweiß- Stil bietet Comics als Kunst (deutsch bei Edition Moderne). Um so unverständlicher ist es, daß deren argentinischer Landsmann, Alberto Brecchia, noch immer keinen deutschen Verleger gefunden hat. Nicht zuletzt sein argentinischer Alptraum Perramus (1984/85) — eine Hymne auf den Dichter José Luis Borges und ein Epos über Angst und Repression, Feigheit und Schuld in Lateinamerika hätte eine deutsche Edition allemal verdient.
Der Comic als Kunst
Angoulême 91 geriet auch zum Spiegel des deutschen Comic-Markts: Die Nachricht, daß der Aufkauf des Mannheimer Feest-Verlages durch den Marktführer Ehapa (Stuttgart) unter Dach und Fach ist, läßt ahnen, welche enormen Marktverschiebungen hierzulande möglicherweise anstehen. Der derzeitige Albenmarktführer Carlsen (Ehapa ist nur mit seinen Heft- und Magazinproduktionen im Disney-Bereich die Nummer eins) dürfte es in Zukunft schwer haben, seine Vormachtstellung zu behaupten. Sinnfällig: Die Auszeichnung des Ehapa-Albums Manuel Montano von Miguelanxo Prado als „bestes ausländisches Album 1990“ in Angoulême.
Späte Wiedergutmachtung widerfuhr dem Meister des galoppierenden Wahnsinns und exzessiven Slapstick-Humors: Gotlib, 56, erhielt für sein Ouevre den Hauptpreis. Gotlib machte sich auch bei uns mit seinen „Rhaaah lovely“-Gesichtsverrenkungen Marke „Haaaaah!“ einen Namen. Alben wie Peter pervers (der ewige Exhibitionist mit dem Sabbermaul), der Klassiker Aaaahrg! und Hamster Fidel sind deutsch beim Nürnberger alpha comic Verlag erschienen. Typische Sequenz Gotlibscher Prägung: Eine Frau muß zum Ohrenarzt, weil der Verlobte ihr Trommelfell beim himmelschreienden Orgasmus (O-Ton Gottlib: „Haaaaah!“) zum Platzen gebracht hat. Des Slapstick- Grandsegnieurs Hauspostille Fluide Glacial (Gotlib selbst hat den Zeichenstift seit zehn Jahren aus der Hand gelegt) hat ihr deutsches Pendant in der Zeitschrift U-Comix (früher Volksverlag, jetzt alpha comic Verlag).
Der Golfkrieg lag auch im Festivalprogramm wie ein Schatten über Angoulême: Die Schau Libanon, lebendig, trotz alledem zeigte denn auch eine Auswahl libanesischer Comics aus Beirut während der Zeit des Bürgerkrieges.
Last but not least zwei herausragende Italiener: Federico Fellini hat mit dem Starzeichner Milo Manara das erste Comic-Drehbuch herausgebracht: Die sinnesfreudige Reise nach Tullum (Carlsen Verlag auf deutsch); Tulipan d'Amore von dem in Paris lebenden Silvio Cadelo bietet ein erotisches Panoptikum um einen liebeskranken Tulipan (Schreiber & Leser).
Daß Angoulême — trotz der großen Absatz- und Innovationskrise des französischen Comics — auch 1992 stattfindet, dafür war das diesjährige Festival rund ums Medium des graphischen Erzählens eigentlich Argument genug.
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