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„Bunker außer Betrieb!“

In Tel Aviv regiert Angst vor Iraks Raketen/ Unbehagen in der Bevölkerung über mangelnden Zivilschutz/ Medien übernehmen Alltagsregie  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Man hüte sich vor Wahrsagern und Experten! Am Tag des ersten Scud- Angriffs auf Tel Aviv prophezeite eine bekannte Astrologin in der Tel- Aviv-Beilage der 'Jerusalem-Post‘, daß in den kommenden beiden Jahren kein Krieg mit dem Irak zu erwarten sei. Professor Haim Javetz, ein Stratege von Rang und Namen, beruhigte das Fernsehpublikum wiederholt, daß hier keinerlei irakische Raketen einschlagen würden. Und ehemalige Militärs (darunter der frühere Verteidigungsminister Rabin) behaupteten vor Kriegsbeginn mit der gleichen Bestimmtheit, daß es keinerlei Abwehr gegen einfliegende ballistische Raketen in Israel gebe.

Buchstäblich im letzten Moment, kurz vor dem ersten Raketeneinschlag, wurden dennoch zwei Patriot-Batterien von US-amerikanischen Flugzeugen eingeflogen und dann durch zwei weitere mit amerikanischer Mannschaft verstärkt. Mittlerweile hat sich herausgestellt, daß die Patriot-Rakete Scuds zwar noch im Flug zur Explosion bringen kann, daß die Bestandteile aber auf die Erde stürzen und viel Schaden anrichten können. Bisher waren die Sprengköpfe der irakischen Raketen „nur“ konventioneller Art, doch die Gasangriffsgefahr bleibt weiter bestehen.

Das Gefühl der Schutzlosigkeit hat fast die Hälfte der Bevölkerung des Großraums Tel Aviv zur Flucht aufs Land gebracht: in Hotels, Kibbuzim und sogar in arabische Ortschaften. Viele kommen tagsüber zur Arbeit in die Stadt zurück. Banken und Postämter schließen bereits am frühen Nachmittag. Der Postverkehr mit dem Ausland ist fast vollkommen zusammengebrochen.

Abends ab sechs Uhr sind die Straßen wie leergefegt. Bereits Stunden früher wälzt sich täglich ein schier unendlicher Strom von Autos stadtauswärts. Für zehn Kilometer braucht man auf den Ausfahrtstraßen Tel Avivs um diese Zeit durchschnittlich zwei Stunden. Nicht nur deshalb ist diese tägliche Reise nervenaufreibend, sondern auch, weil man besonders gefährdet ist. Bei Alarm steht die Autoschlange still. Man schließt, den Instruktionen folgend, alle Autofenster und setzt sich die Gasmaske auf. Man bekommt ein klaustrophobes Gefühl. Der Anblick der Mitfahrer ist erschreckend: Rüsseltiere schauen dich an.

Der Tel Aviver Bürgermeister hat die Stadtflüchtigen als „Verräter“ beschimpft und hat sich damit bei seinen Bürgern ziemlich unbeliebt gemacht; auch bei jenen, die zurückbleiben müssen, weil sie zu arm, zu krank oder zu alt sind, um täglich die Stadt zu verlassen. Sie fragen: Was hat die Stadtverwaltung zu unserem Schutz unternommen? Langsam muß man nun nämlich mit der Wahrheit herausrücken: Es gibt nicht genügend öffentliche Bunker. An den wenigen vorhandenen prangt nicht selten die Aufschrift: „Dieser Bunker ist außer Betrieb.“ „Schützt uns das abgedichtete Zimmer gegen Gas, bloß weil hier seit 43 Jahren keine Bunker gebaut wurden?“ erregt sich der israelische Schriftsteller Amos Kenan, „war unsere politische Führung jemals auf die Eventualitäten der Gegenwart und der Zukunft vorbereitet? Die Abwesenheit von Bunkern ist kein Versehen, sondern Ausdruck der strategischen Konzeption der Bürgermeister. Sie haben vorausgesehen, daß in unseren modernen Zeiten und in zukünftigen Kriegen nur Klebeband, Folien und nasse Lappen (zum Abdichten) erforderlich sind.“ Die notdürftig mit privaten Mitteln gegen Gas abgesicherten Zimmer, in die wir uns zur Zeit zurückziehen sollen, wenn die Alarmsirenen heulen, haben sich immerhin insofern bewährt, als es bislang keine Angriffe mit chemischen Waffen gegeben hat. Für die bisherigen konventionellen Angriffe sind derlei Maßnahmen zwar untauglich, aber sie haben einen gewissen psychologischen Effekt.

Das Absurde unserer Lage wird deutlich, wenn man versucht, die vielen wohlmeinenden Ratschläge des Zivilschutzes wirklich zu beachten: Man soll sich im Sicherheitszimmer nicht an eine Außenwand lehnen; man soll aber auch nicht gegenüber einer Außenwand sitzen, auch nicht in Fenster- oder Türnähe und auf keinen Fall unter einer Lampe. Wo eine durchschnittlich große Familie in ihrem meist kleinen geschützten Raum eigentlich sitzen oder liegen soll, bleibt offen. Ältere Bekannte von mir, ein Maler und seine Frau, können aus Gesundheitsgründen gar keine Gasmaske aufsetzen und ziehen es bei Alarm vor, in die Küche zu gehen und Kaffee zu trinken. Vermutlich ist dieses Verhalten nicht weniger „sicher“ als das offiziell empfohlene. Jungen steigen jetzt bei Alarm schon auf die Dächer, um „Patriot jagt Scuds“ zu beobachten. Davor wird natürlich mit Recht gewarnt, auch wenn in der letzten Zeit die Raketen auch in der besetzten Westbank runtergehen.

Neben den Raketen spielen zur Zeit die Medien die zweitwichtigste Rolle. Aus ihnen erfährt man, wann ein Alarm anfängt und aufhört, wann man sich die Gasmaske übers Gesicht ziehen soll und in welchen Gebieten die Leute wann aus ihren Sicherheitszimmern herauskommen können. Unser praktisches Leben regelt also der Zivilschutz. Parallel dazu sucht uns der CNN auch noch das politische Denken abzunehmen. Wir werden mit Expertenkommentaren und „Real-time“-Berichten überflutet. Unserem Denkvermögen tut das gar nicht gut.

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