: »Abtreibungstourismus« ist ausgeblieben
■ Mit dem Einigungsvertrag wurde der Fristenlösung in den fünf neuen Ländern eine Schonfrist von zwei Jahren eingeräumt, doch trotz der liberalen Regelung kommen mehr Ostberlinerinnen zum Schwangerschaftsabbruch in den Westteil als umgekehrt — von Anja Seeliger
Ost-Berlin. »FRAUEN ABTLG.« steht an dem zweistöckigen Haus der Dr.Georg-Benjamin-Klinik in Staaken, in dem sich ein grüngekachelter Operationssaal befindet. Hier werden pro Jahr zwischen 150 und 200 Schwangerschaftsabbrüche sowie gut 600 Entbindungen vorgenommen. Ein Narkosegerät, ein OP- Tisch, das Absauggerät und ein Desinfektionsapparat bilden die karge Ausstattung. Im Erdgeschoß ist die Abteilung für Geburtshilfe untergebracht, im ersten Stock liegen Patientinnen, die eine gynäkologische Operation vor oder hinter sich haben. Unter anderem auch Schwangerschaftsabbrüche.
Seit zehn Jahren ist der 42jährige Gynäkologe Ottmar Grulich Leiter der Frauenabteilung. Seine Klinik in Weststaaken unterliegt seit der Vereinigung am 3. Oktober in der Abtreibungsfrage Westberliner Recht. Da die Georg-Benjamin-Klinik aber gleichzeitig das Kreiskrankenhaus von Nauen ist, gilt hier die Fristenlösung: »Doch wegen eines Abbruchs war noch keine Westberlinerin hier«, sagt Grulich.
Als die Bundesregierung beschloß, die Fristenlösung im Gebiet der ehemaligen DDR noch zwei Jahre zu tolerieren, wurde befürchtet, daß nun ein Abtreibungstourismus von West nach Ost einsetzen würde. Sie jedoch wisse von keiner Westberlinerin, die im Ostteil der Stadt abgetrieben habe, sagt Gabi Halder, Beraterin bei pro familia: »Es kommen eher Frauen aus Ost- Berlin, die sich nach einem Schwangerschaftsabbruch im Westteil erkundigen.« Gibt es einen Grund, nicht in einer Ostklinik abtreiben zu lassen?
Das Krankenhaus Staaken liegt ungefähr 15 Busminuten vom Rathaus Spandau entfernt. Neben der verrosteten Bushaltestelle steht ein Hochhaus, das mit blauer Wellpappe isoliert ist. Die umliegenden niedrigen Häuser haben dieselbe Packpapierfarbe wie die Gebäude der Dr.Georg-Benjamin-Klinik. Deren Abteilungen sind in langgestreckten Häuserblocks untergebracht, die auch als Kasernen durchgehen könnten. Anziehend kann die Klinik auf Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollen, mit Sicherheit also nicht wirken.
Anders die Charité. Sie ist das attraktivste Krankenhaus in Ost-Berlin. Einige Abteilungen sind zwar in einem alten Backsteingebäude untergebracht, doch wird der altertümliche Anblick von einer gewissen Ehrwürdigkeit gemildert. Der Hauptteil der Klinik liegt in einem modernen Hochhaus. An der Ausstattung der Charité können auch westliche Ärzte nicht mäkeln, doch auch hier sind die befürchteten »Abtreibungstouristinnen« ausgeblieben. »Bis jetzt waren höchstens zehn Westberlinerinnen hier«, sagt Martina Rauchfuß, Gynäkologin in der Charité. Am Ruf der einzelnen Krankenhäuser kann es also nicht liegen, daß für einen Schwangerschaftsabbruch kaum Westberliner Frauen in den Ostteil fahren. Die beiden Krankenhäuser (Staaken und Charité) wären grundsätzlich bereit gewesen, Patientinnen aus West-Berlin aufzunehmen.
»Stationärer Aufenthalt, Vollnarkose und Kürettage [medizinischer Fachausdruck für eine veraltete Abtreibungsmethode, bei der mit einem löffelartigen Instrument die Gebärmutter der Frau ausgeschabt wird] schrecken die Frauen mehr ab als Zwangsberatung und Indikation«, erklärt sich Gabi Halder von pro familia das geringe Interesse der Westberliner Frauen.
Die medizinische Versorgung in den fünf neuen Ländern hat keinen guten Ruf. Ob der Unterschied zu Westberliner Kliniken bei Abtreibungen so groß ist, darf bezweifelt werden. Kürettiert wird zumindest in Ost-Berlin schon lange nicht mehr. Jede Klinik arbeitet mit einem Absauggerät und Vollnarkose mittels Injektion wird auch im Westen häufig angewendet. Wie in allen Ostberliner Kliniken werden in Staaken Schwangerschaftsabbrüche stationär durchgeführt. Am ersten Tag Aufnahme und Untersuchung, am zweiten Tag der Eingriff. Die Frauen bleiben noch zwei Tage zur Beobachtung auf der Station. In einigen Krankenhäusern, zum Beispiel im Oskar- Ziethen-Krankenhaus in Lichtenberg, dauert der stationäre Aufenthalt nur einen Tag. Morgens hin, abends zurück.
Mit dem Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch wurde im Jahr 1972 die Fristenlösung in der DDR eingeführt und der ambulante Abbruch verboten. Der Grund ist nicht mangelnder Fortschritt oder Modernität. Bernd Hamann war Anfang der siebziger Jahre Gynäkologe in Buch und hat erfolgreich ambulante Abbrüche durchgeführt. Die Frauen hätten den ambulanten Abbruch bevorzugt, sagt er. Die alten Männer der Staatsführung hat das nicht interessiert. Hamann mußte sein Projekt einstellen. »Mit dem stationären Aufenthalt haben die irgendwie den Beweis verbunden: Seht, wie gut wir mit unseren Frauen umgehen«, erklärt er die staatliche Anordnung.
Karin Klimmt arbeitet seit 25 Jahren als Frauenärztin in Pankow. Anfang des Jahres hat sie einen Kredit aufgenommen und ihre Praxis modernisiert. Das Geld würde auch noch für ein Absauggerät reichen, aber diese Anschaffung ist nicht nur eine Geldfrage: »Ich habe schon daran gedacht, aber man muß die Frauen bei Komplikationen ins Krankenhaus bringen können.« Zur Zeit gibt es noch keine Belegbetten für niedergelassene Ärzte in Ostberliner Kliniken. Frauen, die einen Abbruch wollten, hat sie in die Klinik nach Buch überwiesen.
Die Vorstellung, mit Schwangerschaftsabbrüchen in der eigenen Praxis Geld zu verdienen, mißfällt Karin Klimmt: »Ich könnte sicher den Kredit schneller zurückzahlen, aber es wäre irgendwie komisch. Ich bin eigentlich Frauenärztin geworden, um dem Leben zum Leben zu verhelfen.« Mit der Mordtheorie vieler westlicher Ärzte hat ihr Unbehagen nichts zu tun: »Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, einer Frau zu sagen: Sie töten Leben. Das halte ich psychologisch für völlig unmöglich.«
Ihre erste Patientin in der neuen Praxis sei eine Frau Mitte dreißig gewesen, die gerade eine Umschulung angefangen habe: »Die Schwangerschaft war eine Katastrophe für sie.« Die Frauen in der DDR, sagt Karin Klimmt, seien das Hausfrauendasein nicht gewöhnt. »Die Verunsicherung ist groß, wenn man das erste Mal erlebt, wie das ist, wenn man keine Arbeit hat, wo früher nichts sicherer war als Arbeit.« Sie hat ihre Patientin zum Abbruch nach Buch geschickt. »Seelisches Wohlbefinden gehört doch auch zur körperlichen Unversehrtheit. Also war es eine medizinische Indikation«, versucht sie ihre Entscheidung auch mit der westlichen Vorschrift in Einklang zu bringen.
Für Frauen mit »einer Hucke Kinder zu Hause« oder Frauen, die noch in einem Arbeitsverhältnis auf Probe sind und sich mehrere Tage Krankschreibung nicht leisten könnten, sei ein stationärer Abbruch schwierig. Unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit befürwortet Karin Klimmt den ambulanten Abbruch in der Praxis. Ohne moralisierende Vorbehalte. Die zwiespältigen Gefühle, die bleiben, teilt sie mit ihrem Kollegen aus der Staakener Georg- Benjamin-Klinik: »Es ist keine Tätigkeit, die ich gerne mache. Aber das hat nicht viel zu sagen. Amputationen mache ich auch nicht gern«, sagt Ottmar Grulich. »Es ist ein medizinisches Problem: die Behandlung ist für die Frau notwendig, wenn sie sich entschieden hat, das Kind nicht zu bekommen.
Fristenlösung und Beratungszwang
Ein Ausschuß der Bonner Ärztekammer, paritätisch besetzt mit fünf West- und fünf Ost-Gynäkologen, hat Anfang Januar einen Vorschlag für ein neues einheitliches Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch erarbeitet: Fristenlösung und Beratungszwang. Vor zwei Wochen einigte sich auch die große Koalition in Berlin auf diese Formel für eine gemeinsame Bundesratsinitiative. Im Keller der Berliner Ärztekammer ist man von diesem Vorschlag nicht sehr angetan. Hier trifft sich alle vier Wochen der Arbeitskreis Geburtshilfe und Gynäkologie. Bei ihrem Treffen im Januar bekunden vor allem die Ostberliner GynäkologInnen ihr Unbehagen an der Zwangsberatung: Die Vorstellung, sie müßten so etwas wie »Schwangerenkonfliktberatung« durchführen, ist ihnen nicht geheuer.
Mit unsicheren Frauen haben auch Ostberliner Ärzte schon immer das »soll ich oder nicht« besprochen. Wenn sie gute Ärzte waren. Aber »Konfliktberatung« klingt so nach »Professionalität«, »Anspruch«. Was tun, wenn plötzlich Patientinnen kommen und schlechte Konfliktberatung bemäkeln? »Muß man das machen, oder kann ich die Leute auch an eine Beratungsstelle verweisen? Ich würde mich bedeutend besser fühlen.« Erleichtert wird zur Kenntnis genommen, daß es Beratungsstellen gibt und kein Arzt verpflichtet ist, die Beratung selbst durchzuführen. Absolute Einigkeit besteht beim Thema Verhütung: Mehr Aufklärung sei dringend notwendig.
Ein Gynäkologe fragt, welche finanziellen Verhältnisse für eine Notlagenindikation sprechen? Die Antwort »so bis 1.200 Mark Einkommen«, löst schallendes Gelächter aus. »Dann haben wir ja nur Sozialfälle«, stöhnt eine Ostlerin. Die WestberlinerInnen sehen die Beratungspflicht auch als eine »unwürdige Prozedur, wenn eine nicht will«. Aber ein Zugeständnis in punkto Beratungszwang sei die einzige Chance, ein Gesetz durchzubekommen, das keine Strafandrohung für Frauen beinhalte.
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