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Gelesen, geweint, ich mach das

Das Polnische Theater Kiel  ■ Von Angelika Jesse

Er hatte eine einzige Telefonnummer in Deutschland. 1982, in Polen herrscht das Kriegsrecht, steht er während einer Tournee in einer Telefonzelle und wählt diese Nummer. Jemand nimmt ab. So kommt er nach Kiel. Tadeusz Galia, künstlerischer Leiter des Polnischen Theaters Kiel, erzählt gerne und wie ein Schalk. Die blonden Haare zu einem Zopf gebunden und die ohnehin großen blauen Augen durch die Brille noch geweitet, sitzt er im Foyer seines kleinen Theaters in der Kieler Düppelstraße und staunt. Also Kiel. Dort begegnet er sechs polnischen Kollegen — „ein Schicksal hat uns zusammengeführt“ —, fünf Schauspielern und einem Regisseur. Mit nur mageren Deutschkenntnissen hat niemand von ihnen eine Chance, an einem bundesdeutschen Stadttheater engagiert zu werden. Sie gründen das „Polnische Theater“ und zu seiner Unterstützung einen Verein.

Zunächst sind sie sehr erfolgreich. „Wir waren ein farbiger Vogel.“ Polen geht durch die Medien, man schickt Pakete. „Und dann hatten wir ja diese niedliche Sprache“, jenen slawischen Singsang, den man ja hier auch ab und zu mag. Nach der ersten Produktion verläßt Aleksander Berlin, der Regisseur, die Gruppe und geht nach Hamburg und gründet dort die „Scena Polska“. Die Anfangseuphorie ist dahin. „Man hat uns einfach vergessen. Zwei Monate lang hat niemand angerufen.“ Er schlägt sich vor Freude auf die Schenkel. Mit Die Hymne von Gyoygy Schwajda erlebt das Theater 1983 eine „Wiedergeburt“. In wechselnder Besetzung — nur Tadeusz macht immer weiter — spielen sie in Kieler Kellern ausschließlich osteuropäische Stücke. Bis auch das schwierig wird. „Das Publikum mag nicht immer diese Problemstücke. Also haben wir umgestellt auf leichtere Kost“, sagt er, augenzwinkernd. 1986 beschließt die Gruppe, sich feste Räume zu suchen. Kein leichtes Unterfangen. Sie geben eine Annonce auf. Zwei Tage später mieten sie die Räume in der Düppelstraße.

Tadeusz Galia erzählt davon wie von einem Wunder, jene Art Wunder, das auch Theater, wenn es gut ist, uns manchmal beschert. Neunzehn Premieren haben sie herausgebracht in diesen Jahren und fast immer sind sie ausverkauft. „Es gibt viele Anrufer, die wollen eine Karte bestellen, und dann fragen sie, was spielt ihr denn eigentlich? Das ist für mich das Schönste“, sagt er und schnurrt wie ein Kater. Sieht er das „Polnische Theater“ als eine Freie Gruppe? „Nein“, sagt er ganz ernsthaft und bestimmt, „wir sind keine freie Gruppe. Wir sind ein kleines Schauspielhaus. Wir protestieren doch nicht, gegen nichts und niemanden.“ Und schon wieder lachend: „Wir sind vielleicht eine besessene Gruppe. Frei? Wie, was? Ich habe keine Freizeit?“ Für die Einrichtung der Räume hat das Land einen Zuschuß gewährt. Ansonsten bekommt das Theater keine Subventionen. Zwei ABM-Stellen, Tadeusz selbst lebt von Arbeitslosengeld. Gästen kann er bestenfalls „ein Schmerzensgeld“ zahlen, und doch stellen sie sich immer wieder gerne ein. Wie zuletzt Ulrike Hanke, die mit ihrer Inszenierung von Augusto Boals Mit der Faust ins offene Messer dem Theater zu einem beachtlichen Erfolg verhalf. Oder auch das Gastspiel der beiden Polen Adam Marjanski und Leszek Zdybal mit Mrozeks Emigranten (wahrscheinlich anläßlich der Kieler Woche noch einmal zu sehen auf der Studiobühne des Kieler Schauspielhauses). So lebt das Theater nur von den Eintrittsgeldern und den Mitteln, die der Förderverein aufbringt. Das geht natürlich mehr schlecht als recht. Doch für diesen Idealismus hat Tadeusz Galia eine ganz klare „freie“ Begründung. „Ich mache Schauspielerei für mich. Um was zu erleben auf der Bühne. Deshalb kann ich es auch umsonst machen, weil ich zufrieden bin.“

Der Gang von Ost nach West ist natürlich nicht ohne Häutungen geschehen. „Ich war als Patriot erzogen, und ich habe festgestellt, das ist Schwachsinn.“ Und weitaus wichtiger ist für ihn die zweifelhafte Rolle der Zensur im Dienst der Metapher. „In Deutschland kann man sagen, Kohl ist doof. Das hat keine Konsequenzen. Mit der Zensur ist das raffinierter. Da ist die Kunst nicht mehr Unterhaltung, sondern Mission. Und die Künstler sind die Apostel der Wahrheit in Chiffren.“ Er fügt hinzu: „In Polen will man jetzt auch keine Metaphern mehr.“ Auch Mentalitätsunterschiede spürt er: „Wir sind melancholisch. Wir weinen gern und wir lachen gern.“ Und es ist bestimmt kein Zufall, daß er zuerst vom Weinen spricht und dann vom Lachen, Tränen nämlich bilden den Mittelpunkt des Theaterkonzepts von Tadeusz Galia. Weinen als vielleicht elementarste Lebensäußerung. „Ich schäme mich nicht, auf der Bühne zu weinen, und ich verlange das auch von meinen Zuschauern.“ Tränen bestimmen auch die Stückauswahl. „Gelesen, geweint, ich mach das.“

Was Tadeusz Galia allerdings beim Lesen von N. Richard Nashs Echos zum Weinen gebracht haben könnte, bleibt eine sehr offene Frage. Dabei beginnt es sehr spannend. In einem Plexiglasspiegel sehen wir uns verzerrt als eine Gruppe ineinander verschlungener Körper. Eine Frau in einem weißen Kittel geht durch den Raum und schließt einen Vorhang, setzt sich mit Notizblock. Das Licht geht an, unsere Zerrbilder lösen sich auf. Wir schauen in einen gänzlich trostlosen Raum aus brauner Pappe, nach allen Seiten hin abgedichtet, einsehbar durch das Plexiglas. In diesem Affenkäfig-Labor ein Männlein und ein Weiblein, zunächst damit beschäftigt, einen imaginären Weihnachtsbaum zu behaupten und zu schmücken. Sacken zusammen, reißen sich wieder hoch mittels eines Fußballspiels, um dann wieder in lethargische Selbstreflexion zu verfallen: „Jemand, den ich nicht kenne, ist hinter mir her. Derjenige bin ich.“ Immer mehr bestätigt sich der düstere Verdacht, es einmal mehr mit einem dieser Dramen des Menschen im Spätkapitalismus zu tun zu haben, in dem der Mensch im Sinnvakuum umherirrend sich verliert im Spiel mit Identitäten. Das Leben ein Traum? Selbst dem ist nicht zu trauen. Tilda und Samuel begegnen sich in der Psychiatrie und leiden beide an Amnesie. Sie ist lediglich in der Lage, lexikalisches Wissen zu rekapitulieren und dann mühelos alle größeren Städte an der Elbe aufzusagen und auch Gedichte. Er weiß nur, da war etwas, vielleicht ein Mord, und die Erinnerung setzt wieder aus. Er ist freiwillig da und sie nicht. Verzweifelt bauen sie sich eine „Als-ob- Welt“. Wenn es allzu unerträglich wird, spielen sie: Weihnachten, sich liebhaben. Er kann gehen, deshalb geht er irgendwann, und niemand kann es ihm verdenken.

Im Programmheft ist Schiller zitiert aus seinen Briefen zur Ästhetischen Erziehung. Das Spiel als Ort der Freiheit versus das Spiel als Markierung der Unfreiheit. Spiel, das nicht enden darf, weil dann wird es ganz schrecklich. Das könnte eigentlich interessant sein, ist es aber nicht, da die Inszenierung zu unentschieden bleibt. Den beiden Schauspielern fällt es offensichtlich schwer, sich mit den Luftblasensätzen in diesem Vakuum zu behaupten, und die Regie hat ihnen nicht zu helfen vermocht.

Möglich, daß es diesmal kein Diktat der Tränen war, sondern eines der Ratlosigkeit. Also — mit Grund — freuen wir uns auf das nächste Stück des Polnischen Theaters.

N. Richard Nash: Echos , Regie: Tadeusz Galia, mit Meike Neumamnn, Fridolin Zaugg, Jutta Ziemke. Polnisches Theater Kiel, Düppelstraße 61, Tel. 0431/804099, Vorstellungen jeweils Mittwoch, Freitag, Samstag.

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