7.000 Reservisten kündigten im Januar

Anträge auf Kriegsdienstverweigerung steigen in neue Dimensionen/ Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer sind völlig überlaufen/ Frauen erkundigen sich für ihre Männer oder Söhne  ■ Von Bernd Müllender

Aachen (taz) — Auf diese Zahlen hatten viele gespannt gewartet: 14.000 Anträge auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) registrierte die Bundeswehr allein im Januar 1991. Das sind mehr als doppelt soviel wie im Vergleichsmonat des Vorjahres. Die Hälfte der Kündigungen kommen von Reservisten, gut 7.000. Das ist schon mehr als im gesamten Jahr 1990 (6.084 Anträge von Exsoldaten) und somit etwa eine Verzwölffachung gegenüber Januar 1990. Die Zahlen hatte die 'Deutsche Presseagentur‘ gestern vorab „aus Militärkreisen“ erfahren. Der Pressestab der Hardthöhe wollte die Zahlen gegenüber der taz indes weder bestätigen noch dementieren. Ob man die Prüfungsgremien, die schon jetzt total überlastet sind, personell aufstocken will, sei noch nicht entschieden. Militärsprecher Salis suchte Gelassenheit zu verbreiten: Es habe schon immer „große Schwankungen“ bei den Antragszahlen gegeben.

'dpa‘ spricht auch von besorgter Stimmung auf der Hardthöhe, insbesondere was die Zahl der Reservisten angeht. Die hatte auch Verteidigungsminister Stoltenberg am Montag abend in der ARD geäußert. Der oberste Kriegsherr benannte auch gleich diejenigen, die für das massenhafte Nein der Ehemaligen verantwortlich sind: „militante Gruppen“, die zur Verweigerung anstachelten.

Diesen militanten Friedenshetzern, den seit einem Jahrzehnt überall in der Bundesrepublik existierenden Spätverweigerergruppen, kommt solch ministeriales Lob gerade recht. Überall kann man sich vor Arbeit kaum retten. Zehnmal soviele kommen zu den Beratungsterminen, mancherorts mehr als zwanzigmal soviele. Beispiel Göttingen: früher keine zehn Leute im Monat, jetzt an einem Abend über 100. In Aachen waren es fast 300 bei einem improvisierten Beratungsabend. Und bei der Bremer KDV-Zentralstelle ist die Arbeitszeit bis 21.30 Uhr verlängert, die Nachtanrufe übersteigen die Kapazität des Anrufbeantworters.

In einem merkwürdig krassen Mißverhältnis stehen dazu allerdings die Teilnehmerzahlen bei gemeinsamen öffentlichen Verweigerungsaktionen, bei denen nicht höflich um staatliche Anerkennung gebeten, sondern eine bedingungslose Weigerung und vorsorgliche Dersertion öffentlich kundgetan wird. Bremen mit fast 200 am vergangenen Freitag (siehe taz vom 4.2.) war eine Ausnahme, ansonsten machen gerade mal zwei oder drei Dutzend mit wie in Karlsruhe, Hamburg, Stuttgart oder in Aachen, wo bei einem „feierlichen Entlöbnis“ immerhin 46 Reservisten ihre Wehrpässe in den Müll warfen. Solche Zahlen wurden Anfang der 80er Jahre bei ähnlichen Aktionen noch deutlich übertroffen — und das bei deutlich weniger Anträgen auf KDV.

Grund für die mäßige „Militanz der Antimilitaristen“ scheint die Angst — und das in zweifacher Hinsicht. Bei Beratungsterminen, so berichten viele KDV-Aktivisten gleichlautend, tauchen immer wieder Fragen auf wie: Wenn ich öffentlich mein Nein erkläre, wer erfährt davon — Arbeitgeber, Kollegen..., und welche Folgen hat das für mich im Zivilleben? Oder der völlig abstruse Gedanken: Wird mich die Bundeswehr extra zu einer Übung einberufen?

Neu ist auch das folgende Phänomen: Immer öfter tauchen Frauen auf, die Hilfe erbitten, wie sie denn ihre Männer oder Söhne endlich zu einer Verweigerung animieren könnten. Ein Berater aus Tübingen berichtet von Reservisten, die vor seinem Infostand in dritter Reihe in Deckung gehen und die Frau vorschicken, um Hilfestellung zu erbitten. Männer haben offenbar Angst, ihre Angst einfach zuzugeben.

Die Kriegsangst, insbesondere selbst marschbeordert zu werden, ist nicht immer der alleinige Grund, sondern oft nur Anlaß zur Verweigerung, einer Entscheidung, die — so die gängige Erfahrung — viele Reservisten seit vielen Jahren mit sich herumtragen. Aber dieser besonders perverse Krieg hat — trotz der hohen Antragszahlen — bislang noch nicht das erwartete Maß an Entschlossenheit ausgelöst, gegebenenfalls auch totalzuverweigern oder zu desertieren. Vater Staat droht seine Wehrpflichtigen in die „Mutter aller Schlachten“ zu schicken, aber die Verweigerungswilligen fragen vornehmlich nach Tricks und Kniffen, wie eben diese Bundeswehr ihr Gewissen gnädigerweise am leichtesten ausmustert. „Die Verweigerer sind weniger politisch als viele glauben“, so ein seit Jahren engagierter Spätverweigerer.

Da sich viele Reservisten erst im Laufe des Januars über das Verweigerungsverfahren informierten, es meist noch eine Zeit dauert, bis der Antrag bei den Behörden registriert wird, da der Krieg weiter eskaliert und der Einsatz auch von Wehrpflichtigen in der Golfregion erst seit der vergangenen Woche regierungsamtlich angekündigt wurde, ist für die nächsten Wochen mit einem weiteren drastischen Anstieg der KDV- Zahlen zu rechnen. Beim Flugabwehrgeschwader 36 in Bremervörde, das zu Teilen nächste Woche ins türkische Diyabakir marschbefohlen wird, haben mittlerweile 61 Soldaten einen KDV-Antrag eingereicht.