: Mit Spermaschmuggel Rinderrasse gerettet
Über innerdeutsche Grenze in Thermoskanne Sperma geschmuggelt und vom Aussterben bedrohte Ostkuh besamt/ Gefragt ist heute die Normkuh ■ Von Dirk Wildt
Berlin (taz) — Frisch gemolkene Milch zu trinken, ist ungewöhnlich genug. Auf der Grünen Woche, der Berliner Ernährungs- und Landwirtschaftsmesse, konnten Besucher sogar frisch gemolkene Milch von einer Kuh trinken, die es eigentlich gar nicht mehr gibt — denn die Ausstellungskuh Zitrone gehört einer Rasse an, von der es kurz vor Öffnung der Mauer im November 1989 nur noch sieben weibliche Tiere gab. In Halle 25 hat Bauer Faßmann aus dem sächsischen Vogtland nicht nur jeden Abend um 17.30 Uhr seine Zitrone gemolken, er präsentierte auch stolz den Nachwuchs mit dem stolzen Namen Zenobia.
Die einjährige Zenobia verdankt ihre Geburt einem Zufall. Im hessischen Gießen hatten Mitarbeiter einer Samenbank vergessen, tiefgefrorenes Sperma wegzuwerfen. Im Mai 1989 schmuggelte Bernd Müller vom Vogtländischen Bauernmuseum die 25 Jahre alten Samenzellen in seinem Rucksack über die Grenze der damaligen DDR — in einer mit flüssigem Stickstoff gefüllten ganz gewöhnlichen Thermoskanne; Temperatur: -170² Celsius. Müller brachte die „heiße“ Ware in eine Besamungsstation in Limbach. Kurz darauf tauchte ein Besamungstechniker im Stall von Faßmann auf und befruchtete Zitrone mit den Keimzellen eines Bullen ihrer Rasse.
Kampf um den Erhalt der Diepholzer Gans
Eigentlich sollte es Zitrones Rasse nicht mehr geben, denn schon die Nazis hatten ab 1935 im Vogtland nur noch die Zucht einer sogenannten Normkuh erlaubt. Und heute ist die Rasse bedroht, weil sie nicht den industriellen Ansprüchen entspricht. Denn Nutztiere sollen schließlich schnelles Wachstum, fettfreies Fleisch und möglichst viel Milch garantieren. Die Folge: Nur noch vier Rinderrassen stellen heute nahezu den gesamten Bestand in der Bundesrepublik — 96 Prozent.
Fast noch schlimmer sieht es bei den Schweinen aus. Vier Rassen teilen sich gar den Betand von 98,8 Prozent aller Schweine, kritisiert Piet Oehmichen von der „Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Nutztierrassen“. 12 Schaf-, 11 Rinder-, 7 Pferde-, 4 Ziegen- und 3 Schweinerassen sind in ihrer Existenz bedroht. Oehmichens Gesellschaft will auch den bedrohten Thüringer Waldesel und die Diepholzer Gans vor dem Aussterben bewahren.
Die bedrohten Haustierrassen zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich über die Jahrhunderte ihrer Umgebung angepaßt haben, sehr genügsam sind, selten krank werden und in der Landwirtschaft meist mehrere Aufgaben erfüllen. Milchkuh Zitrone läßt sich zum Beispiel auch mal vor den Karren spannen. Die Industriekuh dagegen wurde für eine Umwelt gezüchtet, in der sich von Norwegen bis Südeuropa die gleiche konstante Temperatur herstellen läßt und die selbst die gleichen Keime bieten kann: den Stall. Normrind und Normschwein sind deshalb besonders krankheitsanfällig. Und damit die Kühe mehr Milch geben und Schweine schneller wachsen, brauchen sie konzentriertes Futter aus einer anderen Welt — der Dritten.
100 Jahre alte Gene für eine andere Welt
Oehmichen bemängelt, daß mit dem Verschwinden der Haustierrassen auch Kultur verlorengeht. „Wer weiß heute noch, daß das Bentheimer Schaf mit der gleichnamigen Stadt verbunden ist“, fragt der Schützer von bedrohten Haustierrassen. Die Behauptung der Gentechniker, daß Erbgut der bedrohten Tiere ließe sich einfrieren und jederzeit zu neuem (alten) Leben erwecken, sei nicht bewiesen, erklärt Werner Plarre, bis vor kurzem Professor für Züchtungsforschung an der Freien Universität Berlin. Möglicherweise könne man 100 Jahre alte Gene gar nicht mehr in die Welt setzen, weil die Umwelt schließlich nicht mit tiefgefroren worden sei, sondern sich entwickelt habe.
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