: Pankower Eltern bestehen auf »Sondermodellen«
■ Ab August Gesamtberliner Schulgesetz/ In Pankow sorgen die Vorstellungen der Eltern über die Zukunft der Polytechnischen Oberschulen für Zündstoff: »Pankow hat kein gutes Image beim Senat, weil wir lauter Sonderwünsche haben«
Pankow. Die Direktorin der 16. Polytechnischen Oberschule weigert sich aufzugeben: »Ich möchte von Ihnen und den Parteienvertretern hören, ob sie unser Modell unterstützen oder ablehnen.« Nach zwei Stunden aufgeregter Debatte sitzen 200 Eltern schweigend in der riesigen weißen Aula der Carl-von-Ossietzky- Schule. Petra Burkert ist die einsetzende Lustlosigkeit nicht entgangen. Die Vehemenz, mit der die Schuldirektorin ihre Forderung stellt, hat einen resignierten Unterton. Bildungsstadtrat Alex Lubawinski will nicht ungefällig sein und verspricht matt: »Wir wollen es vorschlagen, einbringen und uns dafür einsetzen.«
Die Aula ist zu etwa zwei Dritteln gefüllt. Vorn sitzen die Schulräte Ingo Härtelt und Wolfgang Schmäling sowie Bildungsstadtrat Alex Lubawinski. Es geht um die Zukunft der Zentrumsschulen in Pankow. Mit Zentrumsschulen sind die in der Bezirksmitte gelegenen Schulen gemeint. Die Stadträte haben schon unzählige solcher Diskussionen hinter sich.
Das Schulsystem in Ost-Berlin war einfach: Jeder Schüler ging zehn Jahre in eine Polytechnische Oberschule (POS). Wer gut in Staatsbürgerkunde war, einen akzeptablen Klassenstandpunkt und auch sonst ganz ordentliche Leistungen vorweisen konnte, durfte anschließend noch zwei Jahre die Erweiterte Oberschule (EOS) besuchen. Ab 1. August werden die Zeiten dieses zweigliedrigen Schulsystems vorbei sein, dann gilt auch im Ostteil das Westberliner Schulgesetz. Die Forderung nach Grundschulen, Gymnasien, Real-, Haupt- und Gesamtschulen faßt Paragraph 26 des Westberliner Schulgesetzes unter dem Begriff Mehrgliedrigkeit zusammen.
Die 16. POS ist ein häßlicher lehmfarbener Kastenbau mit betoniertem Schulhof. Das Zimmer von Direktorin Burkert wird von einem abwaschbaren Konferenztisch dominiert, an dem sie im April 90 mit ihren 30 Lehrerinnen und drei Lehrern die Suche nach einem neuen Konzept für ihre Schule begonnen hat: »Sämtliche Lehrer konnten eine Woche Bildungsurlaub nehmen und sich andere Schulen angucken«, erzählt Petra Burkert. Die 38jährige war fünf Jahre Biologielehrerin an der 16. POS, bevor sie dort im September 90 Direktorin wurde.
Die Umwandlung der Schulen ist Sache der Bezirke. Für Alex Lubawinski bedeutet das, über die Zukunft von 28 POS und zwei EOS entscheiden zu müssen. Dabei hat er die Eltern-Vorschläge zu berücksichtigen. Pankow brauche etwa 16 bis 18 Grundschulen, bleiben 10 POS übrig, rechnet Lubawinski. Je nachdem, welche Schule zur Grundschule und welche zur weiterführenden Schule wird, müssen entweder die Schüler der Klassen 1 bis 6 oder die der Klassen 7 bis 10 die Schule wechseln. Stoff genug für Konflikte, die einem Bildungsstadtrat Alpträume bescheren können. Das verwaltungstechnische Fachwort für diesen Vorgang lautet »Umstrukturierung«.
Gibt es genügend Klassenräume, um eine POS in eine Gesamtschule zu verwandeln? Auf bürokratisches Nützlichkeitsdenken reagieren Eltern und Lehrer der Carl-von-Ossietzky-Schule mit eigenen Vorschlägen. Petra Burkert möchte aus ihrer Schule eine kooperative Gesamtschule mit integrierter Grundschule für die Klassen 1 bis 13 machen. Eine Schule für 13 Jahrgänge ist im Westberliner Schulgesetz, wo zwischen Grundschule und weiterführender Schule strikt getrennt wird, nicht vorgesehen. Petra Burkert plant also ein Sondermodell. Sondermodelle aber bedürfen laut Gesetz der Genehmigung durch den Senat.
»Pankow hat kein gutes Image beim Senat, weil wir lauter Sonderwünsche haben. Die sagen jetzt einfach nein«, versucht Schulstadtrat Härtelt die Begeisterung der Pankower Eltern für Sondermodelle zu bremsen. Vergeblich. Die 20. POS präferiert eine Gesamtschule für 13 Jahrgänge mit »musisch-ästhetischer Ausrichtung«. Die 11. POS probt bereits eine »Lebensgemeinschaftsschule«, in der Kochen, Nähen und Schreinern unverzichtbare Bestandteile des Stundenplans sind.
Streifzüge durch die Schulen der alten Länder
Nach ihren Streifzügen durch die Schulen der alten Bundesländer tauschten die Lehrer der 16. POS ihre Erfahrungen aus. Gegen die Waldorfschulen spreche »die gesamte Doktrin mit der Steiner-Ideologie und der Frontalunterricht«, sagt Petra Burkert. Dreigliedriges Schulsystem? »Da geht's dem Drittel gut, die das Gymnasium packen, die anderen fallen hinten runter.« Nach »unzähligen Diskussionen mit Schülern, Eltern und Lehrern« fiel die Entscheidung für eine Gesamtschule mit 13 Jahrgängen.
»Wir haben das Konzept im November vor dem Magisenat vertreten und eine volle Bauchlandung erlitten«, verteidigt sich Schulstadtrat Ingo Härtelt. Die Senatsvertreter hätten ihn belehrt, daß für den westlichen Bandbreitenunterricht mit seinen Teil- und Förderstunden mehr Räume gebraucht würden als für das östliche Lehrmodell. Diese Erklärung beeindruckt die Eltern überhaupt nicht: »Welcher Westberliner Faktor gilt denn an unseren Schulen? Wir haben im August sicher keine Computer, und die Fenster werden auch nicht alle schließen. Wieso hacken jetzt alle auf dieser Raumverteilung herum?«
Auch die Pankower Schüler versuchen, eigene Ideen durchzusetzen. Silke Schmöckel ist Schülerin der 16. POS und Klassensprecherin der 10 b. Im November platzte während des Unterrichts plötzlich ihre Freundin in den Klassenraum: mehrere Pankower Schulen planten eine Protestaktion vor dem Rathaus. Die 16. POS hatte einige Tage zuvor erfahren, daß das Bezirksamt ihre Schule als Grundschule eingeplant hatte. Für die Klassen 7 bis 10 bedeutete das den Schulwechsel. Spontan beschlossen Silke Schmöckel und ihre Mitschüler mitzudemonstrieren. Petra Burkert gefiel die Idee, aber sie fragte sich auch, ob ihre Eigenschaft als Direktorin sie nicht zu einem Verbot zwinge. An diesem Tag hatte sie einen »Schulrat a.D. aus Westdeutschland zu Besuch«, der die Verwirrung der Direktorin mit dem Satz kommentierte: »Wir haben das '68 alle durchgemacht. Ich kann das verstehen.« Petra Burkert sagt, sie hätte diese Bemerkung nicht sehr hilfreich gefunden.
Die ungewisse Zukunft der Schule macht Silke Schmöckel nervös: »Muß ich mich jetzt an einer anderen Schule bewerben, werde ich arbeitslos oder was?« Die Bewerbung an einer neuen Schule sei ein Angstproblem, sagt die Klassensprecherin. »Das hört sich an, als müßte man sich schon für einen Beruf bewerben. In der alten Umgebung fühlt man sich wohler.«
Den Versuch, Klassen für 13 Jahrgänge einzurichten und mit der Thälmannschule zu kooperieren, könne man zu Recht kritisieren, sagt Direktorin Burkert: »Zu unüberschaubar, die Schüler müssen fünf Minuten von einer Schule zur anderen laufen.« Dafür blieben die Kinder von Klasse 1 bis 13 zusammen. Zu Hause erlebten sie, wie ihre Eltern um die Arbeitsplätze fürchteten. »Wenn sich alles verändert, ist es für die Kinder wichtig, daß ihr soziales Umfeld erhalten bleibt«, meint Petra Burkert.
»Es gibt ein großes Sich-Wehren im Senat gegen Schulen mit zehn oder mehr Klassen«, berichtet Ingo Härtelt von eigenen leidvollen Erfahrungen. »Mit welchen Vorsätzen haben Sie sich eigentlich wählen lassen, wenn Sie sich alles bieten lassen wollen?« will ein gereizter Vater wissen. Jetzt wird Bildungsstadtrat Lubawinski sauer: »Wir haben zweimal gewählt, daß wir dem Grundgesetz beitreten. Da müssen wir auch die Konsequenzen tragen.« Nach dem Westberliner Schulgesetz entscheide der Senat über Schulversuche.
Die Eltern der 20. POS sind nicht bereit, sich dem Senat kampflos zu ergeben: »Wie kann sich ein Senatsvertreter — wo immer sich der versteckt — gegen den Willen von 500 Eltern und deren Kinder entscheiden? Ich dachte, die Zeiten sind vorbei«, rätselt ein Vater auf einer Elternversammlung. Ein grauhaariger Mann schlägt vor, einen Senatsvertreter zu einem Treffen zu bitten. Seine betont ausgleichende Stimme provoziert einen weniger friedfertigen Vater zu dem Gegenschlag: »Ich bin für Konfrontation. Ich bin lange genug auf die zugegangen, und was habe ich davon? Jetzt werde ich abgewickelt. Wenn die Brüder im Senat keinen Termin machen, bekommen sie es mit uns Eltern zu tun.«
»Wir können nicht für die nächsten zehn Jahre in Konfrontation mit dem Senat leben«, meint ein anderer Vater. Anja Seeliger
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