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Die reichen Früchte des Irrtums

Dubuffet in der Frankfurter Schirn  ■ Von Martina Kirfel

Er war sehr launenhaft und wechselte rasch von Kleinlichkeit zu Großzügigkeit, von Zurückgezogenheit zu Geselligkeit, von aggressiver Ironie zu tolerantem Gewährenlassen, vor allem aber von Feindseligkeit zu Freundschaft und zurück. Einigen erschien er als Ungeheuer, anderen als Heiliger, wobei er ganz offensichtlich keines von beiden war, zumindest nicht über längere Zeit“, schreibt ein Freund über den Maler Jean Dubuffet. Ein ähnliches Wechselbad erwartet den Besucher der großen Dubuffet-Retrospektive in der Frankfurter Schirn, der ersten Gesamtschau seit dem Tod des Künstlers 1985. Man schwankt angesichts dieses Oeuvres zwischen Faszination und Langeweile, Empörung und Zustimmung, Heiterkeit und Ernst.

Viermal hatte der Sohn eines Weinhändlers in Le Havre Anlauf genommen, Maler zu werden. Dreimal kehrte er angewidert vom Pariser Kulturbetrieb ins väterliche Weingeschäft zurück. Erst 1942 — im Alter von 44 Jahren — schaffte er den Sprung.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die klassische Moderne bereits fast alles hinter sich: Malewitsch hatte sein schwarzes Quadrat gemalt, Duchamps seinen Flaschenständer ausgestellt, die Surrealisten das Unbewußte in den Werkprozeß miteinbezogen, die Fauves und Expressionisten die subjektiv-verzerrte Darstellung der Wirklichkeit salonfähig gemacht. Dubuffet trat ein unüberschaubares Erbe an. Seine Ansprüche waren hochgeschraubt: Jeder Künstler solle seine eigene Bildwelt erfinden, sie aus den „reichen Früchten des Irrtums“, aus den Zufälligkeiten des Werkprozesses herauskristallisieren, variieren und weiterentwickeln. Die permanente künstlerische Selbsterneuerung war Dubuffets oberstes Gebot, dabei spielte der Widerspruch eine konstituierende Rolle.

Dubuffet hat nichts unversucht gelassen, den Bourgeois doch noch einmal zu epatieren. Er widersprach allem und jedem, den herrschenden ästhetischen Normen, der akademischen Tradition, den Trends des aktuellen Kulturbetriebs. Selbst die klassische Moderne bürstete er wider den Strich, die doch mit ähnlichen Zielen wie er selbst angetreten war.

Während tout Paris der abstrakten Kunst, dem Informel, huldigte, machte Dubuffet das Gegenteil — er malte gegenständlich. Kein Thema war ihm heilig: Den Tempel der weiblichen Aktmalerei stürmte er mit aufgeblähten animalischen Gestalten, Metzgerstück oder Bärin lauteten die Titel. Die menschliche Gestalt geriet ihm mal zu kruden verrohten Giganten, mal zu winzigen geritzten Wichten. Er scheute vor keinem noch so unedlen Material zurück, malte mit Teer, Sand, Erde Glas, Kordel und Kiesel, modellierte mit Schwamm, Schlacke und Treibholz.

Der Erfolg war durchschlagend. Die Welt der Avantgarde nahm ihn begeistert in ihrem Schoß auf. André Malraux war sein erster Käufer, außerdem verkehrte er mit Paul Eluard, Francis Ponge, Raymond Queneau, Georges Limbour u.a. Seine Porträts aus der Pariser Kulturszene, wenig schmeichelhafte Konterfeis, wurden bereits im Entstehungsjahr 1947 in Paris ausgestellt. Gleichzeitig fand seine erste Einzelausstellung in New York statt. Geschickt wußte Dubuffet die Marktmechanismen auszunutzen, doch buhlte er nie offen um Anerkennung, wohl wissend, daß die Provokation das beste Erfolgsrezept war.

1943 betrat er die Pariser Kunstszene mit dem Zyklus Marionettes de la ville et de la campagne. Austauschbare Metro-Gäste und Passanten sind seine urbanen Motive, auf dem Land malte er Radfahrer, Viehzüchter und glückliche Kühe. Dubuffets Figuren der Frühzeit sind flach, ohne Volumen, meist frontal oder im Profil, überdimensional groß und stark vereinfachend widergegeben. Sie erinnern an naive Kunst oder Kinderzeichnungen und besitzen — wie diese — die besondere Ausstrahlung der konzentrierten Reduktion. „Ich vermeide bei den Themen, die ich male, gerne alles, was zufällig ist. Ich male gerne das Allgemeine“, erläuterte Dubuffet. Beeinflußt war er von Klee, Fautrier und Chaissac, aber auch von der prähistorischen und primitiven Kunst und — ab 1945 — von der der Geisteskranken, für die er später den Begriff Art brut (rohe Kunst) prägte. Er selbst sammelte leidenschaftlich Werke Geisteskranker und schätzte vor allem die Arbeiten Adolf Wölflis (seine Sammlung ist heute im Chateau de Beaulieu in Lausanne zu sehen).

Paradebeispiel der frühen großen Figurenbilder ist der Wille zur Macht (1946). Dubuffet konfrontiert den Betrachter mit einer nackten männlichen Gestalt, die fast den Bildrahmen sprengt. Den untersetzten gedrungenen Körper, das aufdringliche Geschlecht, die dichte mit Erdbrocken verkleisterte Körperbehaarung und das kräftige Gebiß aus Kieselsteinen modelliert er fast im Flachrelief. Gelbe Glasaugen fixieren den Betrachter vor einem leuchtend blauen Hintergrund — eine Spottgeburt aus Dreck und Farbe.

In den folgenden Jahren traten die großen Figuren mehr und mehr in den Hintergrund. Sie schrumpften, wurden nur mehr geritzt oder schemenhaft angedeutet. Statt dessen konzentrierte Dubuffet sich auf die Stofflichkeit der Farbe und der verwendeten anderen Materialien. Die Wucht des Ausdrucks lag nun weniger im Motiv als vielmehr in der lebendigen Struktur der Fläche. Doch verlief diese Entwicklung nicht stringent. Dubuffet arbeitete sprunghaft — mal eilte er voraus, trieb ein bildnerisches Konzept bis zum Äußersten, mal experimentierte er in Serien, mal griff er ein längst ausgereiztes Thema erneut auf, und alles begann von vorn.

Im Chaos der bis zu dreißig Werkzyklen ist in den ersten beiden Dekaden allen Rückgriffen zum Trotz eine deutliche Tendenz zur Entwertung des Gegenständlichen gegenüber der Stofflichkeit des verwendeten Materials auszumachen. Dem Mann, der so mutig den Gegenstand hochgehalten hatte, als die meisten die geometrische Abstraktion forderten, kam dieser Gegenstand peu à peu abhanden.

1951 schuf Dubuffet einige Ölbilder, die nur noch durch ihren Titel als „gegenständlich“ zu identifizieren sind. Tischklumpen zeigt eine praktisch nicht mehr als Tisch zu erkennende Form in bräunlichen und grauen Tönen. Die Farbe bildet eine lebendige Textur aus Schlieren und Krusten.

Dubuffet hat den Nullpunkt der Gegenständlichkeit erreicht. In einem nächsten Schritt entwickelte er in den Zyklen Célébration du Sol und Matériologies gegenstandslose Graphiken und Gemälde, die reine „Strukturbilder“ sind. Ihre mimentische Funktion hat sich auf die Nachahmung eines Materials reduziert. Die Arbeiten wirken wie geologische Funde — langweilige Artefakte, die allenfalls den Kunsttheoretiker begeistern. Dubuffet stand an einem Endpunkt. Er hatte die Materialität mit der Liquidierung des Gegenstands absolut gesetzt und sah sich nun — wenn er nicht bis an sein Lebensende Gesteinsoberflächen imitieren wollte — gezwungen, einen vollständigen Kurswechsel zu vollziehen. Darin war er ohnehin Meister, doch diesmal hatte der Wechsel eine andere Qualität. Material und Gegenstand waren ausgereizt — nun galt es, die Ebene zu wechseln.

Der Sprung ins Reich der Abstraktion war zu diesem Moment nur mehr ein Hopser. Dubuffet, der Tänzer auf allen Hochzeiten, hopste — und verstrickte sich damit endgültig in Widersprüche. Er, der gegen die abstrakte Kunst angetreten war, schuf nun, wenn auch auf eigene Weise, mit dem Werkzyklus L'Hourloupe eine abstrakte Scheinwelt jenseits aller menschlichen Erfahrung. Das Hourloupe-Prinzip, ein unregelmäßiges weiß-rot-blaues Raster aus wabernden und verzahnten schwarz umrandeten Einzelelementen hatte er beim Kritzeln während des Telefonierens entdeckt. Er entwickelte daraus eine autonome Formensprache, die zunächst noch vage Elemente des Alltags und menschliche Gestalten erkennen ließ. Doch im Geflirre der puzzleartigen Kleinteiligkeit, in der ständigen Wiederholung ein- und desselben, lösten sich die gegenständlichen Reminiszenzen mehr und mehr auf.

Ungewöhnlich lange, nämlich zwölf Jahre, währte die Phase, in der Dubuffet sich in seine Hourloupe- Welt einspann und in einer Art horror vacul Leinwand um Leinwand mit dem rot-weiß-blauen Raster überzog. Später übersetzt er dieses Prinzip ins Dreidimensionale, baute Plastiken und entwarf gar mit dem Coucou Bazar eine Art Theater für täppische roboterhafte Hourloupe-Wesen, die teilweise computergesteuert, teilweise von Schauspielern unterstützt, zu dröhnender Musik auftraten — eine flimmernde, ineinanderfließende gescheckte Gesellschaft. In konsequenter Besessenheit erweiterte Dubuffet seine Gegenwelt bis hin zur Architektur und zum Gartenbau. In der Nähe von Paris errichtete er die Villa Valbala, die wie ein heiliger Schrein in ihrem Zentrum das Cabinet logologique birgt, umgeben von einem hortus concluses, der Closerie: ein Momument aus weißem Polyester, überwuchert mit schwarzumrandeten Hourloupe- Zellen.

Provozierend kommentierte der Maler selbst seine Gegenwelt: „Viele gehen an ein Bild heran in der Überzeugung, darin eine Transportierung dessen zu finden, was der Maler sieht... Mir scheint die Malerei jegliches Interesse zu verlieren, wenn es sich nicht im Gegenteil darum handelt, sich selbst Schauspiele zu bieten, die der Maler zu sehen begehrt.“

Dieses sein Begehren hat Dubuffet bis ins letzte befriedigt. Fraglich bleibt, ob dem Begehren des Betrachters entsprochen wird. Der Hourloupe-Zyklus wird von den Experten hoch gelobt. Der Organisator der Ausstellung und Autor des Katalogs, Thomas M. Messer, ehemaliger Direktor der Guggenheim-Museen in New York und Venedig, bezeichnete die Polyester-Villa als „wahre sixtinische Kapelle unseres Zeitalters“.

Manch einer wird dem nicht folgen wollen. Das Projekt, eine Gegenwelt zu schaffen, hat viele Künstler der Neuzeit fasziniert, wenige haben es so konsequent durchgehalten wie Dubuffet. Doch das allein reicht nicht. Denn den meisten anderen ging es in ihren Projekten immer noch darum, über ihre eigene Subjektivtät hinaus zu einer neuen Allgemeingültgkeit zu finden, den Menschen etwas mitzuteilen. Was vermögen uns Dubuffets hybride Mickey-Mäuse des Coucou-Bazars zu sagen? — Ja sicher, die Menschen sind im technischen Zeitalter zu „Algebra-Menschen“ (Dubuffet) regrediert, sie sind austauschbar geworden. Doch über Banalitäten geht da nichts mehr hinaus. Höchstens wäre den Artefakten noch ein gewisse rührende Komik zuzugestehen.

Jean Dubuffet in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main, bis 3.März, Katalog: 260 S., 39DM

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