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Scheibengericht: Anton Bruckner / Hugo Wolf / Elisabeth Schwarzkof / Walter Bruno

ANTON BRUCKNER

Sinfonie Nr. 7

Berliner Philharmonisches Orchester, Jascha Horenstein

Koch International 3-7022-2 H1 (CD)

Sinfonie Nr. 7

Columbia Symphony Orchestra, Bruno Walter (zusammen mit Bruckner, Sinfonie Nr. 5, Philadelphia Orchestra, Eugene Ormandy)

CBS MY 2k 45669 (2 CD)

Sinfonie Nr. 7

Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden, Michael Gielen

Saphir/Intercord Int 830.864 (CD)

Bruckners Siebte, langsamer Satz — eines der Stücke, die einen ungerecht gegenüber allen anderen machen können, weil man denkt: Schöner geht nicht, das hier muß die schönste Musik sein, die je erfunden wurde. Solche Eindrücke hat man allerdings wesentlich eher im Konzertsaal als zuhause am Radio oder Plattenspieler. Man sitzt in einer Menge von zweitausend Leuten, die schweigen, man sieht die Musiker bei der Arbeit, man ist weniger empfindlich gegen technische oder interpretatorische Mängel, weil gewissermaßen die Musik selbst anhebt, aber es gibt auch die ständige Möglichkeit des Mißlingens, die die Spannung erhöht, man hat keine Chance zur Flucht. Die Konserve dagegen ist immer gleich, schön vielleicht, aber wie ein aufgespießter Schmetterling, sie muß sich gegen den Lärm der Welt, die Stereoanlage des Nachbarn und das Telefon durchsetzen und kann jederzeit abgeschaltet werden. Nur ganz wenige Aufnahmen schaffen es mit ihren Mitteln, einen in den Bann zu ziehen, als säße man im Konzert.

Alle drei Aufnahmen sind auf der Höhe des Stücks, keine geht nachlässig mit der Musik um. Wie kommt es aber, daß man nur bei einer von ihnen nicht die Musik abstellen würde, wenn das Telefon klingelt, sondern das Telefon?

Horensteins Aufnahme von 1928 ist ein interpretationsgeschichtliches Dokument. Horenstein gehört mit Toscanini in die Reihe jener Dirigenten, die in den zwanziger Jahren Schluß machten mit der von Adorno so beklagten „romantisierenden Willkür“ und genialischen Schlamperei des Musikbetriebs und sich dem Notentext mit neuer Sachlichkeit zuwandten.

Allerdings ist bei dieser Aufnahme heute eher die Gegenseite interessant: das, was trotz allem darin noch aus der alten Spielpraxis herüberreicht und keineswegs Schlamperei ist, die agogische Freiheit zum Beispiel. Es ist fraglich, ob im Zeitalter der gewerkschaftlich beschränkten Probezeiten und des Reisedirigententums überhaupt noch ein Orchester zu dieser Flexibilität der inneren Tempogestaltung imstande wäre. Oder die Portamenti, das Verschleifen der Töne in Streicherkantilenen — eine Technik, die Horenstein zwar sehr gemessen und bewußt, aber immerhin noch einsetzt, während heute auch im Legato jeder Ton einzeln anvisiert, die letzte Erinnerung an den Gesang mithin getilgt wird. Je mehr dieser alten Aufnahmen auf den Markt kommen, desto zweifelhafter wird, ob es wirklich ein Fortschritt war — wie Adorno behauptet —, daß sich nach Dirigenten wie Toscanini oder Horenstein keiner mehr traut, die ersten drei Noten des Schicksalsmotivs in Beethovens Fünfter langsamer zu nehmen als den Rest. Sachlichkeit, die als „Werktreue“ ausgegebene, statistische Reproduktion eines Notentexts, ist der Name für die Schlamperei im heutigen Musikbetrieb.

Diesen Vorwurf lassen sich allerdings weder Bruno Walter noch Michael Gielen machen. Daß Gielen ein denkender Musiker ist, daß er versucht zu wissen, was er tut, und musikalisch zu artikulieren, was er weiß, hört man etwa an der Weise, wie in diesem Satz bisher kaum wahrgenommene Nebenstimmen hervorgehoben oder Übergänge gestaltet werden. Es ist eine gute Aufnahme, mehr als das übliche anonyme Abspielen einer Partitur, das erreicht wird, wenn ein Dirigent mit einem einigermaßen professionellen Orchester nach drei Probenachmittagen ins Studio geht. Es wäre unfair, diese nach heutigem Standard verdienstvolle Aufnahme mit der von Bruno Walter zu vergleichen und sie als die bloß ehrenwerte dastehen zu lassen, denn es sind Differenzen von kaum zu benennender Winzigkeit, die den Unterschied machen. Den himmelweiten.

Bruno Walter muß Bruckners Siebte kurz vor seinem Tod im Jahre 1962 eingespielt haben. Es handelt sich um eine frühe Stereo-Aufnahme. Der ziemlich ungenaue Copyright-Vermerk auf der Doppel-CD, in der diese späte Walter- Aufnahme mit Eugene Ormandys Aufnahme der Fünften von Bruckner gekoppelt ist, lautet „1963, 1967, 1970, 1971“. In einem dieser Jahre wurde die Platte also erstveröffentlicht. Ein Produzent wird nicht genannt — hat man je einen Filmvorspann gesehen, in dem der Name des Kameramanns fehlte?

Das Wunder dieser Aufnahme — gewiß, ein pathetischer Ausdruck, aber der Musik Bruckners wurde einmal religiöse Verehrung entgegengebracht, jugendbewegte Nietzscheaner ließen sich darüber erstmals in diesem Jahrhundert die Haare wachsen, tausendseitige, musikhistorisch bedeutsame Abhandlungen wurden den neun Sinfonien gewidmet, in denen der schrullige kleine Komponist, eine Art tragischer Hans Moser, in neuartigen Kraftbegriffen als musikalischer Weltenwalter begrüßt wird, und hier beginnt man zu verstehen, warum — läßt sich vielleicht noch als Eindruck vollkommener Durchdringung der Partitur in Worte fassen, die allerdings nicht ins Virtuosentum eines von Dirigentenwillkür geknechteten Orchesters führt, sondern in die Befreiung: der Musik aus den Noten, und das auf Platte.

Walter entdeckt nicht hier und da eine bisher verborgene Nebenstimme neu, sondern es gibt bei ihm überhaupt keine Stimme, die nicht an ihrem Platz und vor allem: in ihrem Recht wäre. Selbst die akkordischen Mischklänge werden hier nicht einfach zur harmonischen Farbe, sondern bleiben zugleich, ohne karg analytisch in Einzelmomente zu zerfallen, zusammengesetzt aus individuellen Valeurs, die sich zwar unterordnen, aber nicht verleugnen. Es ist berückend, gute Totalität, realisierte Utopie: Die Stimmen sind es bei Walter auch im demokratischen und im Wortsinn.

Um eine der kaum zu benennenden Nuancen herauszugreifen: der unauffällige kleine Hornruf, mit dem im langsamen Satz der Übergang zur ersten Wiederkehr des ersten Themas eingeleitet wird, zweimal drei absteigende Noten. Bei Gielen bezeichnet der Hornruf partiturgemäß eine bestimmte Formstelle im musikalischen Prozeß. Bei Walter ruft das Horn. Bei Walter ist es auch kein Zufall, daß die Noten absteigen, denn es handelt sich um einen Klageruf, einen Rückruf ins erste Thema, in dem die Wagner- Tuben ihren finsteren Trauerchoral auf Richard Wagner singen. Darum legen Walter und seine Hornisten einen Akzent auf die jeweils ersten der drei Noten. Und daß dieser Hornruf so klein und unauffällig ist, macht ihn nur umso beredter, herzinniglich verzweifelter: So wenig bedarf es, um das riesenhafte Orchester aus dem heller getönten zweiten Thema in die Trauer des ersten zurückzuholen. Niemand würde da das Telefon abnehmen.

HUGO WOLF

Manuel Venegas

Mitsuko Shirai, Josef Protschka, Hartmut Höll u.a., Württembergischer Kammerchor, Dieter Kurz

Capriccio/Delta 10362 (CD)

Manuel Venegas ist das letzte Werk, an dem Hugo Wolf arbeitete, bevor er 1897 dem Wahnsinn verfiel, dem er 1903 im Alter von 43 Jahren erlag. Erhalten ist von diesem Opernprojekt ein großes Bruchstück — die Partiturskizze vom Beginn des ersten Akts, der hier erstmals — allerdings nur mit Klavierbegleitung — auf Platte vorgestellt wird.

Wie ein Besessener, so sagt man, hatte Wolf die Vertonung des Librettos in Angriff genommen, und sein Wahn war eine direkte Verlängerung dieser Besessenheit. Wolf bildete sich ein, er sei zum Hofoperndirektor in Wien ernannt worden, der gerade auf diese Position berufene Gustav Mahler, sein Studienfreund, sei entlassen. Mahler hatte sich ihm gegenüber abfällig über seine erste Oper geäußert, den Corregidor von 1895.

Manuel Venegas beruht wie der Corregidor auf einem Roman des spanischen Dichters Pedro Antonio Alarcon y Ariza (1833-91). Moritz Hoernes, ein Professor für Prähistorie an der Universität Wien, arbeitete den Stoff für Wolf zum Libretto um. Wolf war begeistert: „Shakespeare selber hätte den Stoff nicht dramatischer und zugleich poetischer gestalten können.“

In einer kleinen spanischen Stadt wird ein Frühlingsfest gefeiert. Manuel kommt nach jahrelanger Abwesenheit schwerreich aus Amerika zurück. Vertrieben hatte ihn die unglückliche Liebe zu Soledad. Ihr Vater, ein Wucherer, der einst Manuels Familie ruinierte, hatte ihm ihre Hand verweigert. Nun hofft er sie gewinnen zu können — soweit das vertonte Fragment. Im weiteren Verlauf der Handlung stellt sich heraus, daß Soledad schon einen anderen heiraten mußte. Das Ende: Manuel ersteigert beim Fest für hunderttausend Realen einen Tanz mit Soledad. Die Freude, sie nun umarmen zu dürfen, fällt tragischerweise so heftig aus, daß er sie aus Versehen erwürgt. Er seinerseits wird von ihrem Gatten niedergestreckt. Kurz: eine Schmonzette, wenn auch ernst gemeint, aber das ist nicht das Problem, Musik hat schon ganz anderen Unsinn wahr und schön gemacht.

Das Problem ist Wolfs drastischer Mangel an dramatischem Gespür. Hölzerner als in diesem Fragment hat noch keine Oper angefangen. Der ganze erste Akt besteht aus umständlichen, von Nebenfiguren vorgetragenen Nacherzählungen, die die dramatische Situation erklären sollen, dabei aber das Drama im Keim ersticken. Wolf hätte das Libretto verwerfen oder gänzlich neu schreiben lassen müssen. Die im ersten Akt nacherzählte Vorgeschichte von Manuel, Soledad und dem Wucherer hätte als Aktion auf die Bühne gehört.

Auch die zwei schön gewirkten Frühlingsgesänge des Chores und Soledads als Arie eingearbeiteter Gesang aus dem „Spanischen Liederbuch“ — Bedeckt mich mit Blumen — können den Entwurf nicht retten. Die Platte ist ein Dokument des Scheiterns, darum als Erstaufnahme nicht weniger verdienstvoll. Dem etwa halbstündigen Fragment sind ein paar weitere Gesänge aus dem „Spanischen Liederbuch“ beigegeben.

HUGO WOLF

24 Lieder

Elisabeth Schwarzkopf, Gerald Morre, Geoffrey Parsons

EMI CDM 7 63653 2 (CD)

Daß sich etwas so knapp, klein und lakonisch geben und zugleich sosehr nach Tristan und Isolde, gar Parsifal klingen kann! Aber es ist nicht allein der Einfluß Wagners, den man in Wolfs Liedern hört, obwohl er der frappanteste, sozusagen unwahrscheinlichste ist. Wie eingespiegelt ist in diese Miniaturen die Musik des ganzen Jahrhunderts, das vor ihnen liegt. Strophenform und Volksliedton stehen ihnen zu Gebote, freie Deklamation, alte Rezitativformeln und sogar ein arioser Charakter, der mit Koloraturen und Kadenzen an Bellini erinnert — etwa in der Zigeunerin nach Eichendorff. Genauso gestaltenreich ist das Klavier, mal spielt es der Stimme Motive zu oder übernimmt und verarbeitet sie, mal bleibt es so sehr für sich, daß man sich wundert, wie nahtlos es dennoch mit der Stimme verfugt ist. Es ist ein romantisches Orchester — leistet thematische Arbeit, ahmt die Natur nach wie in einer Symphonischen Dichtung, gestikuliert wie in der italienischen Oper. Das alles in betont reduziertem Satz.

Die CD bündelt 24 Schwarzkopf-Aufnahmen von 1956 bis 1975 und wäre mit ihren fast achtzig Minuten Spieldauer eine ideale Einführung in Wolfs Lieder. Elisabeth Schwarzkopf war als Liedersängerin bekannt geworden, bevor sie auch in der Oper Erfolge feierte, und trat schon Ende der vierziger Jahre selbst in London und New York mit Wolf-Programmen auf, dessen Lieder damals außerhalb des deutschsprachigen Raums noch kaum bekannt waren. Walter Legge, der berühmte Produzent — unter anderem hat er die Opernaufnahmen von Maria Callas betreut — und Ehemann Elisabeth Schwarzkopfs, war ein regelrechter Hugo- Wolf-Fan, Gründer der englischen Hugo-Wolf-Gesellschaft schon in den dreißiger Jahren. Legge hatte auch entscheidenden Anteil an der Standardbiographie über Wolf, Frank Walkers Hugo Wolf (deutsch: Graz u.a. 1953), für die er in Deutschland, Österreich und Jugoslawien Material gesammelt und Zeitzeugen interviewt hatte. Aber man muß diese Vorgeschichte nicht kennen, um zu hören, daß es kaum kompetentere und engagiertere Interpretationen von Wolf-Liedern geben dürfte als die von Schwarzkopf gesungenen und Legge produzierten. Die Platte ist empfehlenswert.

Und ist es doch nicht. Daß im Beiheft die Liedtexte fehlen, ist unverzeihlich. Das Mitlesen der Texte ist in Liederabenden — und war früher übrigens auch in der Oper — selbstverständliche und einzig sinnvolle Praxis. Natürlich artikuliert Elisabeth Schwarzkopf vorbildlich — man versteht fast alles, aber eben nur fast. Außerdem ist es noch einmal etwas anderes, wenn man das Gedicht auch gedruckt vor sich sieht. Für ausländische Hörer — die Einführungstexte sind ins Englische und Französische übersetzt, die Liedtitel nicht — ist die Platte vollends unbrauchbar. Gerade große und keineswegs arme Häuser wie die EMI leisten durch den immer häufigeren Verzicht auf diesen Service einem Stimmfetischismus Vorschub, der die Texte als etwas „Außermusikalisches“ und Vernachlässigenswertes ansieht. Aber wer nicht auf Texte hören will, hat keine Ahnung von Stimmen. Es ist traurig.

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