Die Empirie der Vernichtung

Eine dringend notwendige Studie  ■ Von Birgit Bosold

Bei meiner ganzen Arbeit habe ich nie mit den großen Fragen begonnen, weil ich fürchtete, magere Antworten zu bekommen“, sagt der amerikanische Historiker Raul Hilberg, Autor der einschlägigsten Untersuchung über den von den Nationalsozialisten organisierten „bürokratischen Vernichtungsprozeß“ in dem Film Shoah — „Ich habe es deshalb vorgezogen, mich der Präzisierung und den Details zuzuwenden, um sie zu einer ,Geslat‘ zusammenfügen zu können, zu einem Gesamtbild, das — wenn schon keine Erklärung — doch wenigstens eine umfassende Beschreibung dessen wäre, was sich ereignet hat.“

Die neu erschienene Untersuchung von Gudrun Schwarz über „nationalsozialistische Lager“, die sich der Frage widmet, wie viele Lager und welche verschiedenen Typen es in den von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten gab, dem Versuch, sämtliche verfügbare Daten zusammenzustellen, ist ein Beitrag dazu. Ausgangspunkt ihrer Fragestellung ist die These Hannah Arendts, daß die Lager, „so unwahrscheinlich es klingen mag, die eigentlich zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparates“ gewesen seien. Die Arbeit von Gudrun Schwarz nimmt einen besonderen Status ein, weil es immer noch Untersuchungen über den Nationalsozialismus gibt, in denen die Lager nur beiläufig erwähnt werden und die Verflechtung des Lager-Systems mit dem gesamten politischen und gesellschaftlichen Leben nicht in die Analyse einbezogen wird. Andererseits ist der Stand der Kenntnisse über die empirischen Fakten der Lager als katastrophal zu bezeichnen.

Einzelne Typen von Lagern und das Ausmaß und die Engmaschigkeit des nationalsozialistischen Lagersystems sind kaum oder gar nicht bekannt. Und weil ein genaues Wissen über den Charakter der verschiedenen Kategorien fehlt, kommt es immer wieder zu zynischen Euphemismen, etwa wenn die Bezeichnung „Arbeitslager“ nicht als das angewendet wird, was sie ist: ein Zitat der NS-Bürokratie. Sie ist eine unzulässige, irreführende Verharmlosung, weil sie impliziert, daß die Häftlinge nichts weiter zu erdulden gehabt hätten, als nur arbeiten zu müssen.

Darüberhinaus verschwindet in dieser Forschungsperspektive „der Osten“, die Verbrechen der SS, der SS-Einsatztruppen und auch der Wehrmacht gegen die Menschen in den besetzten und annektierten Gebieten in Osteuropa. Die wenigen existierenden Forschungen darüber, wie viele und welche Lager es gab und welche Menschen zu welchem Zweck in sie eingesperrt waren und ermordet wurden, wurden von ehemals Verfolgten oder Autoren jüdischer Herkunft oder von Institutionen in Polen, Israel und den USA eingeleitet: Der Beitrag der bundesdeutschen, akademischen Wissenschaft ist „beschämend gering“.

Die Erforschung der empirischen Daten des nationalsozialistischen Massenmords lenkt den Blick darauf, daß dem nationalsozialistischen Rassismus innerhalb der nationalsozialistischen Politik keineswegs lediglich ein instrumenteller und weltanschaulicher Status zuzumessen ist: „Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die rassistische Politik des nationalsozialistischen Lagersystems zu untersuchen und nach den Opfern dieser Politik zu fragen, nämlich danach, welche Frauen, Männer, Mädchen, Knaben, Säuglinge, Greise, welche Menschen verschiedenen Alters, verschiedenen Gechlechts, verschiedener Herkunft in welchem Lager warum gefangen gehalten und ermordet wurden.“

Das nationalsozialistische Lagersystem steht in einem engen Zusammenhang zu den Maßnahmen, die seit 1933 gegen Menschen gerichtet wurden, die im nationalsozialistischen Deutschland als „minderwertig“ galten. Mehr als 1.500 rassistische Gesetze und Verordnungen hat der nationalsozialistische Staat erlassen, vom Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 bis zum Gesetz „über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“ von 1941 — ein Gesetz, das die Bewohner des besetzten Polens unter eine Sondergerichtsbarkeit stellte, die „äußerste Grenze, bis zu der die Naziregierung ihre mittels Gesetzen und Verordnungen geführte Verfolgung rassischer und religiöser Minderheiten vortrieb...“. Dieses Gesetz wurde am 1.Juli 1943 für Juden außer Kraft gesetzt; „die durchgeführte Evakuierung und Isolierung der Juden und Zigeuner hat die Veröffentlichung von besonderen Anordnungen in der früheren Zeit bedeutungslos gemacht und soll aufhören“, lautet die diesbezügliche behördliche Niederschrift. Weitere Maßnahmen waren die Konzentrierung, Isolierung und Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung in Judenhäusern und Judenwohnungen in den deutschen Großstädten, die Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen und Sterilisationsversuche an als „minderwertig“, „artfremd“ oder „fremdrassig“ klassifizierten Frauen, Männern und Kindern; schließlich die in „Heilanstalten“ begangenen Gruppenmorde an den Fauen, Männern und Kindern, Säuglingen und „alten“ Menschen, an denen die „modernen“, später in den Todeslagern angewandten Methoden des Massenmords entwickelt wurden. All diese Maßnahmen stehen in Bezug zu der späteren Verfolgung und Ermordnug von Menschen außerhalb Deutschlands: die Kategorien, mit denen Menschen klassifiziert wurden, die Methoden, mit denen sie konzentiert, deportiert, gefangengehalten und ermordet wurden, die organisatorischen Mittel bis hin zu den „Experten“, die sie organisierten. 10.005 nationalsozialistische Lager und 16 verschiedene Kategorien hat die empirische Untersuchung ergeben, das sind u.a.: Sechs „Euthanasie-Anstalten“, 20 psychiatrische Anstalten und 30 Kinderfachabteilungen, in denen Menschen durch systematischen Nahrungsentzug, Giftinjektionen oder Gas ermordet wurden, 26 Anstalten in den besetzten Ostgebieten, in denen der Mord durch Kraftfahrzeug-Gaskammern, Vergiftungen und Erschießungen praktiziert wurde; elf Sammelstellen für „unheilbar geisteskranke“ Ostarbeiter und Polen, acht Todeslager, 59 „frühe“ KZ (die noch nicht einer zentralen Behörde unterstellt waren), sechs Haftstätten mit KZ-Charakter, 22 Konzentrations- Hauptlager mit 1.202 Außenkommandos, 399 Ghettolager in Polen (heutige Grenzen), 34 Ghettolager in Ost-Galizien, 16 Ghettolager in Litauen, drei Ghettolager in Lettland, 60 Ghettolager in Transnistrien; 941 Zwangsarbeiterlager für männliche und weibliche Juden, 230 Sonderlager für ungarische Juden im tschechoslowakisch - ungarischen Grenzgebiet Österreichs, 88 Polizeihaftlager; 106 „Arbeitserziehungslager“, acht „Jugendschutzlager“, 40 Strafgefangenenlager im Emsland und 1.303 in Polen, 21 Haftanstalten der Wehrmacht und Kriegsgefangenenlager in Berlin, acht in Hessen, acht im Emsland und 2.197 in Polen, 645 Lager für ausländische ZivilarbeiterInnen in Berlin, 532 in Hessen und 1.798 in Polen, 136 „Aussiedlungslager“, „Übersiedlungslager“, „Germanisierungslager“, Lager für Personen, die von Polen aus zur Industriearbeit nach Deutschland verschleppt wurden.

Nicht bekannt sind alle Zahlen und Daten für alle Strafgefangenenlager, alle Kriegsgefangenenlager, alle Arbeitslager, Zwangsarbeitslager, alle Mordanstalten, sondern nur für jeweils begrenzte geographische Gebiete, beispielsweise für Hessen, aufgrund einer großen Anfrage der Grünen im Landtag oder in Polen aufgrund der Dokumentationen staatlicher Institutionen. Nicht bekannt sind auch die Namen und die Anzahl der Massenerschießungsorte, d.h. der Plätze, an denen die jüdische und nicht-jüdische Bevölkerung in den besetzten und annektierten Gebieten der UdSSR ermordet und verscharrt wurden, der Orte, an denen die SS-Einsatzgruppen und SS- Einsatzkommandos, unterstützt von der deutschen Wehrmacht, durch Massenerschießungen rund einer Million Frauen, Männer und Kinder nahe der Frontlinien vor als „Antitankgräben oder Schützengräben getarnten gigantischen Gruben“ ermordet haben. Der sowjetische Anklagevertreter beim Nürnberger Prozeß beschrieb, wie diese Methode des Mordens ab 1943 bis Ende des Krieges perfektioniert wurde, indem gleichzeitig durch Erschießen und Verbrennen der Opfer gemordet und die Spuren des Mordens beseitigt wurden. „Es ist dokumentarisch belegt, daß die Hitler-Leute ihre Opfer zwangen, Holzstämme aufzustapeln, sich dann auf dieses Holz zu legeh, um so erschossen zu werden. Die nächste Gruppe, die dann erschossen wurde, brachte wieder Holz heran, stapelte es auf die Leichen und legte sich auf die neue Holzschicht, dann wurden auch diese erschossen.“ Unbekannt ist auch die Anzahl der Ghettolager in Weißrußland und der Ukraine, der „Judenhäuser“ und „Sammellager“ in Deutschland, der „Säuglings- und Kleinkinderlager“ in Deutschland, in denen die Kinder der Zwangsarbeiterinnen ermordet wurden, die Zahl der „Germanisierungslager“ in Osteuropa, in denen „eindeutschungsfähige“ Kinder „gesammelt“, klassifiziert, registriert wurden, bevor sie nach Deutschland „zur Adoption“ verschleppt wurden.

5.877 Lager der 10.005 aufgeführten befinden sich in Polen; diese Zahl zeigt, daß in dieser Untersuchung nur ein Bruchteil der NS-Lager dokumentiert werden konnte: „Und dies bedeutet, daß die Anzahl der nationalsozialistischen Lager um ein vielfaches höher sein wird, wenn wir die Zahlen für alle Typen von Lagern auf allen von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten kennen würden.“ Die Relevanz dieser Ergebnisse betrifft die Korrektur grundlegender und weitverbreiteter Annahmen über die nationalsozialistischen Lager: Zum einen ist die Zahl der Lager, obwohl nur zum Teil bekannt, größer als angenommen, ebenso wie sich auch die Zahl der Kategorien und Typen als erschreckend hoch erweis. Zum anderen muß die Annahme, daß es sich bei den Verfolgten und Eingekerkerten „eben um Männer“ handelte, wie der Faschismusforscher Kühnl noch 1983 schrieb, korrigiert werden. In den Mord-Anstalten, Massenerschießungsorten und Todeslagern wurden Frauen wie Männer, Mädchen wie Knaben, Säuglinge wie Greise ermordet, und in sämtlichen anderen Lagertypen mit Ausnahme der Strafgefangenenlager wurden Menschen beiderlei Geschlechts gefangengehalten.

„Welche Bedeutung aber kann dieses Wissen um die Anzahl von Lagern haben?“ fragt die Autorin am Schluß ihrer Arbeit. Zunächst muß konstatiert werden, daß jede Zahl auf ein Lager hinweist und daß damit ein Ort dem Vergessen entrissen wird. Die Zahl — der Versuch zu zählen — ist eine Möglichkeit, die Pluralität von Menschen wahrzunehmen, die als homogene Masse „ohne Ansehen der Person“ (Hannah Arendt) gemordet wurde.

Die Frage nach den Lagern und Typen von Lagern in den von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten sowie die Frage nach den Menschen, die in ihnen gefangengehalten oder ermordet wurden, konfrontiert uns mit dem Ausmaß von Freiheitsberaubung, Willkür, Terror, Grausamkeiten und Greuel, Verschleppung, Zwangs- und Sklavenarbeit, Ausbeutung, Massen- und Völkermord.

Schließlich verschiebt die Frage nach der Zahl und den Typen von Lagern auch den Blick nach „Osten“. Die nationalsozialistischen Maßnahmen gegenüber deutschen Staatsbürgern waren seit 1933 von einer rassistischen Logik, von Klassifikationsmustern und organisatorischen Formen bestimmt, die gegen die Menschen der vom Nationalsozialismus besetzten und annektierten Gebiete weitergeführt wurden. Damit verschiebt sich der Blick nach „Osten“ und setzt einen Bezugsrahmen, in dem der Nationalsozialismus bisher weitgehend nicht wahrgenommnen wurde.

Gudrun Schwarz: Die nationalsozialistischen Lager. Campus Verlag, 268 Seiten, 34DM