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An letzter Stelle: „Juden“

Das Vernichtungslager Auschwitz als polnisches Mahnmal  ■ Von Klaus Bachmann

Am 27.Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der Ersten Ukrainischen Front der Roten Armee befreit. Das Ereignis ist bis beute in einem verwackelten Schwarzweißfilm festgehalten, den die Propagandaabteilung der Roten Armee unmittelbar danach im Lager drehte, und der bis heute mangels eines besseren im Museum von Auschwitz den Besuchern vorgeführt wird. Schon im Februar kam die „Untersuchungsstelle zur Untersuchung der Hitlerverbrechen“ ins Lager und begann mit ihren Nachforschungen. Am 8.Mai war es dann soweit: Zirka vier Millionen Menschen seien in Auschwitz-Birkenau umgebracht worden, verkündete die Armeezeitung 'Krasnaja Zwjezda‘.

Der Streit um diese Zahl brach allerdings erst 45 Jahre später aus. Die monatelange Debatte um Schätzungen von Historikern, die noch dazu so neu gar nicht sind, hängt aber nicht nur damit zusammen, daß die Zahl schon seit jeher von Rechtsradikalen und den französischen Revisionisten in Frage gestellt wurde. Die wohl heftigsten Wellen nämlich schlug der makabre Zahlenstreit gar nicht in Frankreich, Deutschland oder Israel, sondern in Polen selbst. Inzwischen gibt es fast keine Lokalzeitung mehr, die nicht mindestens ein Interview mit dem Leiter der historischen Abteilung des Auschwitzmuseums, Dr.Franciszek Piper, abgedruckt hätte. Piper stellte als erster in Polen die Zahl von vier Millionen Opfern in Auschwitz in Frage.

Piper, so weiß man inzwischen, hat damit nichts neues entdeckt. Schon der polnische Historiker Czeslaw Madajczyk, Autor einer umfangreichen Monografie über die deutsche Besatzungspolitik in Polen, wies in einer Fußnote auf den Zahlenstreit hin. Als erste haben nämlich jüdische Historiker des Yad-Vashem-Instituts aufgezeigt, daß die Zahl von vier Millionen zu hoch sein könnte. Dennoch meldeten sich schon kurz nach Pipers vermeintlicher Sensation die ersten Stimmen zu Wort, die seine Äußerung als typischen Ausdruck von polnischem Antisemitismus werteten. Tatsächlich geht die Debatte in Polen jedoch in eine ganz andere Richtung — jenes Bild von Auschwitz, das jahrzehntelang im Bewußtsein der polnischen Öffentlichkeit dominierte, wird immer mehr in Frage gestellt. Auf eine Art und Weise, die sich für das so belastete Verhältnis zwischen Juden und Polen nur positiv auswirken kann.

Auschwitz als Volksfest? Die Arbeit der Goldgräber

Schon 1946, ein Jahr nach der Befreiung, wurde das Vernichtungslager der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wie, das stieß bald schon auf scharfe Kritik der veröffentlichten Meinung: gegen Eintrittskarten nämlich, die auf dem Lagergelände verkauft wurden, wo zugleich auch Schaps und Bier zu haben waren. Auschwitz als Volksfest? „Auch aus einem Friedhof kann man eine Show machen“, befand eine polnische Tageszeitung bitter. Die Augen gingen den Journalisten erst richtig über, als ein Jahr darauf der erste Teil des Museums eröffnet wurde. Plötzlich wurde deutlich, daß in dem Lager offenbar eine wahre „Orgie der Verwüstung“ stattgefunden hatte. Auf dem Gelände von Birkenau hatten „Goldgräber“ ihr Unwesen getrieben. In genauer Kenntnis des Lagerlebens waren sie davon ausgegangen, daß nicht alle Opfer der Gaskammern vor ihrem Tod den Befehlen der SS gefolgt waren und ihre Wertgegenstände abgegeben hatten. Viele waren tatsächlich mit Kassibern, die sie in verschiedenen Körperteilen versteckt hatten, in den Tod gegangen. Nun galt es, eben jene Wertgegenstände, die nicht mit den Leichen verbrannt, sondern allenfalls geschmolzen waren, wieder zutage zu fördern. Als im Frühjahr 1945 eine staatliche Kommission das Lager besuchte, buddelten die „Goldgräber“ selbst in Anwesenheit von Regierungsmitgliedern im Sand. Justizminister Edmund Zalewski überlegte sich, ob man das Gelände nicht einzäunen und das Militär mit den Ausgrabungen beauftragen sollte.

In der Presse erregten solche Erscheinungen vor allem aus zwei Gründen Abscheu: weil es sich um „wilde“, nicht autorisierte Grabende handelte, und weil damit, so schrieb die 'Gazeta Lubuska‘, an „ein nationales Heiligtum“ Hand angelegt wurde. Zwar erklärte der Landesnationalrat noch im Juli 1945 Auschwitz-Birkenau zu einem „Ort des polnischen und internationalen Märtyrertums“, doch sollte dies an der allgemeinen Überzeugung, daß das Märtyrertum vor allem polnisch sei, nichts ändern. Die zwar subjektive, aber dennoch ehrliche und vor allem unerschütterliche Überzeugung, daß es sich bei den Opfern des Holocausts vor allem um Polen gehandelt habe, sollte zum häufig unbewußten, aber deshalb nicht weniger problematischen Stein des Anstoßes des polnisch-jüdischen Dialogs werden.

Nationalitäten: an erster Stelle Polen, an letzter Stelle: „Juden“

Eine Rolle spielte dabei die Einordnung der polnischen Juden unter „Polnische Staatsbürger“. Die bekannte Formulierung, die Opfer von Auschwitz seien mehrheitlich „polnische Bürger jüdischer Herkunft“ gewesen, wurde sogar schon von Primas Glemp gebraucht. Sie liegt auch dem Streit um das Karmelitinnenkloster in Oswiecim zugrunde und der Anklage von jüdischer Seite, Polen wolle die Opfer von Auschwitz nachträglich christianisieren. Der Vorwurf trifft nur zum Teil. In den Augen vieler Polen ist Auschwitz gewissermaßen ein „polnisches Vernichtungslager“ gewesen, anders als in praktisch allen anderen Ländern, wo man Auschwitz als Symvbol der Judenvernichtung ansieht. Auschwitz stand in Polen, und tatsächlich kamen auch zahllose Polen darin um. Fast die gesamte polnische Auschwitzliteratur nach dem Krieg, historische Darstellungen eingeschlossen, behandelt Auschwitz aus der Sicht von Polen. Kein Wunder, jene jüdischen Intellektuellen, die das Lager anders hätten beschreiben können, wanderten unmittelbar nach dem Krieg zumeist nach Israel aus, so sie überlebt hatten. Wenn sie ihre Erinnerungen dort veröffentlichten, sorgten Sprachbarrieren und Zensur dafür, daß ihr Inhalt nicht nach Polen gelangte. Der offiziellen Propaganda kam dieses Bewußtsein sehr entgegen: Der Erhaltung und Stärkung des antideutschen Konsenses — des praktisch einzigen, der Gesellschaft und kommunistische Herrschaft fast bis zum Schluß verband — konnte es nur zugute kommen, wenn Auschwitz weniger als Verbrechen am jüdischen und damit umso mehr am polnischen Volk dargestellt wurde. Stefan Starczewski, Stellvertretender Kulturminister der Regierung Mazowiecki: „Die Machthabenden der Volksrepublik versuchten jahrelang, unser Wissen über die Tragödie der Juden zu marginalisieren, um so die Leiden der Polen zu exponieren.“ Die Botschaft kam an und fand ihren Niederschlag nicht nur in der Gestaltung des Museums in Auschwitz-Birkenau, sondern auch in zahllosen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen. Jüdische Besucher des Museums, so befand der Krakauer jüdische Intellektuelle Henryk Halkowskim, müßten zwangsläufig zu dem Schluß kommen, in Auschwitz seien nicht vor allem, sondern unter anderem auch Juden ermordet worden, gewissermaßen unter ferner liefen. In einem von der staatlichen Presseagentur Interpress herausgegebenen und im Museum verkauften Führer werden insgesamt 26 Nationalitäten aufgeführt, deren Angehörige im Vernichtungslager ermordet wurden. An erster Stelle Polen, an letzter Stelle: „Juden“, lange nach den Deutschen (!). Franciszek Piper: „Die Tasache, daß Auschwitz vor allem ein jüdischer Friedhof ist, wurde bisher nicht entsprechend deutlich vermittelt. Man hat vom Tod von Holländern, Belgiern, Franzosen gesprochen, aber nicht dazugesagt: holländische Juden, belgische Juden, französische Juden und so weiter. Heute wissen wir mit Bestimmtheit, daß in Auschwitz die meisten Juden aus ganz Europa gestorben sind. Wir können in der Geschichte des Konzentrationslagers Auschwitz zwei Zeiträume trennen: von 1940 bis zur Jahreshälfte 1942, als die Mehrheit der Opfer und Deportierten Polen waren, und von der Jahreshälfte 1942 bis zum Januar 1945, als Auschwitz vor allem das Zentrum der Vernichtung der europäischen Juden war.“

Die Christianisierung der jüdischen Opfer

Der Mystifizierung Auschwitz-Birkenaus als „nationalistischem Heiligtum“ und „Ort polnischen Märtyrertums“ liegt deshalb nicht unbedingt der Versuch zugrunde, den Holocaust nachträglich christianisieren zu wollen. Häufig wurde so etwa die Errichtung des Karmelitinnenklosters interpretiert. „Betet nicht für unsere Toten“, stand auf den Transparenten jüdischer Demonstranten, die gegen das Kloster demonstrierten. Aus jüdischer Sicht sei es undenkbar, für Tote zu beten, erklärten Judaisten. Aus christlicher Sicht sei es undenkbar, dies nicht zu tun, entgegnen katholische Theologen. So wie in polnischen Kirchen jetzt für Litauen gebetet wird, so hielten viele Polen es auch für normal, für die Opfer von Auschwitz zu beten — auch für die Juden unter ihnen. Daran, dadurch die Opfer von Auschwitz zu christianisieren, dachte kaum jemand, man nahm ja an, da lägen vor allem Christen bzw. „polnische Bürger“, von denen einige auch jüdischer Herkunft waren, wie andere ukrainischer oder weißrussischer Herkunft, deren Nachfahren ja auch nichts dagegen einzuwenden hatten, daß man für sie betete. „In Polen fehlt weitgehend das Bewußtsein für die Einzigartigkeit des Holocaust“, meinte der katholische Publizist Krzysztof Sliwinski, inzwischen Botschafter seines Landes in Marokko.

„Wir wollen nicht zugeben, daß es neben unserem Leid auch das Leid der Juden und anderer Nationen gab“, findet der Warschauer Soziologe Pawel Spiewak, „wir fürchten, das Leid der anderen vermindert unser eigenes.“ Tatsächlich meldeten sich nach den jüdischen Protesten vor dem Kloster denn auch die ersten zu Wort, die einen handfesten Anspruch auf Auschwitz als „polnischen Friedhof“ anmeldeten. So schrieb damals etwa Stanislaw Borkacki in der 'Gazeta Krakowska‘, Auschwitz sei vor allem ein „Sanktuarium der Martyriologie des polnischen Volkes“ und erst danach auch des jüdischen oder der katholischen Kirche. Daher habe die katholische Kirche gar kein Recht gehabt, das Genfer Abkommen — über die Verlegung des Klosters — zu unterzeichnen. Borkacki suggerierte, die Verhandlungen mit der jüdischen Seite seien abzubrechen, da ja somit nur Polen ein Recht an Auschwitz habe.

Die Folgen des makabren Zahlenstreits

Ausgerechnet der recht makaber anmutende Zahlenstreit über die Zahl der in Auschwitz-Birkenau umgekommenen Häftlinge dürfte solche Thesen einigermaßen erschüttert haben. Schon 1983 errechnete der Pariser Historiker Georg Wellers die Zahl der insgesamt nach Auschwitz deportierten Häftlinge auf 1.613.455. Davon seien 1,4 Millionen Juden gewesen. Piper, der gewisse Vorbehalte gegenüber Wellers Methode hat, bestätigt diese Proportionen. „Jedes in der Hölle von Auschwitz eingekerkerte Volk hat das moralische Recht, Auschwitz als Teil seiner Geschichte anzusehen. Aber müßte man nicht heute, da sich die Reihen der ehemaligen Häftlinge immer mehr lichten und bereits eine neue Generation das Gedenken an sie übernommen hat, diese Apokalypse mit anderen Augen betrachten?“ fragt Grzegorz Kurkiewicz im 'Tygodnik Gdanskj‘. „Wenn über 90 Prozent der Opfer von Auschwitz Juden waren, gibt dann die 1947 verabschiedete Bezeichnung 'Denkmal des Märtyrertums des Polnischen Volkes und anderer Völker‘ diese Proportion richtig wieder? Und ist dann unser polnischer, allgemein und offiziell verbreiteter Standpunkt im polnisch-israelischen Streit um das Karmelitinnenkloster in Auschwitz überhaupt gerechtfertigt?“

Schon bevor die Differenzen der Forschung über die Opferzahlen in die polnischen Medien gerieten, gab das polnische Kulturministerium eine neue Konzeption des Museums Auschwitz in Auftrag. Als 1989 Bundeskanzler Kohl das Vernichtungslager besuchte, ließ man des Nachts die Aufschrift „Es waren vier Millionen“ übermalen. Nun soll mit der Hilfe internationaler Fachleute eine neue Konzeption erarbeitet werden, die auch an das Leiden von Sinti und Roma, Juden, russischen Kriegsgefangenen und Häftlingen anderer Nationalitäten erinnert. In der breiteren polnischen Öffentlichkeit blieb die Arbeit der Historiker weitgehend ohne Echo — bis der Zahlenstreit das hergebrachte Auschwitz-Bild in seinen Grundfesten erschütterte.

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