Konkrete Vorschläge und Warnung vor Aktionismus

■ Diskussion zwischen Scherf und Semler über Beziehungen zum Baltikum

Daß die Balten, insbesondere in der bremischen Partnerstadt Riga Unterstützung brauchen, darüber war man sich am Montag abend einig. Bürgermeister Henning Scherf und taz-Redakteur Christian Semler stritten lediglich über das „Wie“ und den konkreten Beitrag der Hansestadt. „Vilnius und Riga: die verlorene Ehre des Michail Gorbatschow?“ hieß das Streitgespräch, zu dem das Bremer Ost-West-Forum ins Konsul-Hackfeld-Haus eingeladen hatte.

Gorbatschow habe sich spätestens seit „Gorny Karabach“ für die administrative Lösung seiner Probleme entschieden, charakterisierte Semler die gegenwärtige Situation. „Das ist auch der Grund dafür, daß die Balten jetzt unbedingt raus wollen aus der UdSSR. Auch hier in Bremen muß endlich entschieden werden, auf welcher Seite man steht.“ Seine Vorschläge:

In Bremen wird ein Informationszentrum mit ständigen Vertretern aus dem Baltikum gegründet.

Bremer Bundesratsmitglieder treten dafür ein, daß das Baltikum einen Gaststatus bei den KSZE- Verhandlungen erhält.

Gegenüber der Bundesregierung fordert die Stadt, eine Verurteilung des Hitler-Stalinpaktes.

Die Partnerschaftsbeziehungen werden auf alle gesellschaftlichen Ebenen ausgedehnt.

Für Scherf war das zu weit vorgeprescht. „Also ich bin noch nicht mit dem Thema durch und möchte eher Hoffnung unter die Leute bringen. Ich kann die Sowjetunion noch nicht abschreiben.“ Zwar müsse man die partnerschaftlichen Beziehungen auf jeden Fall erweitern. Doch ansonsten dürfe die Politik der Bundesrepublik nicht ohne den Kontext gesamteuropäischer Politik gesehen werden. Besonders im KSZE-Prozeß, so Scherf, sollte Deutschland nicht herausbrechen. „Außerdem halte ich Aktionismus aus dem Westen für das Letzte, was dem Baltikum nutzt“. Er habe in Riga bei „nächtlichen Spaziergängen zwischen den Barikaden“ erfahren, daß man dort gerade erst angefangen habe darüber nachzudenken, was eigentlich die Handlungsmöglichkeiten der neugewählten Regierung seien. „Und wo ich nicht mitmache, ist, vom sicheren Hafen Bremens aus, Gorbatschow zu verurteilen.“ Das Rezept von Scherf: Schon bestehende Beziehungen werden ausgebaut, Nähe praktiziert und zu friedlichen Problemlösungen ermutigt.

Daß die Sowjetunion, so wie sie heute aussieht, noch längere Zeit bestehen könne, konterte Semler, davon solle sich auch Scherf endlich freimachen. „Wir müssen rechtzeitig überlegen, welches Verhälnis die BRD, aber auch das Land Bremen zu den einzelnen Republiken entwickeln sollte.“ Firmen und Banken hätten da anscheinend viel weniger Bedenken und stünden bereits an der vordersten Front. bz