piwik no script img

Irgendwo sind wir alle mit Erblast beladen...

■ Wie Hans-Jochen Tschiche, Neues Forum, die Veränderungen nach der Wende sieht

Magdeburg. Mit den Veränderungen der vergangenen eineinhalb Jahre zeigt sich der Mitbegründer des Neuen Forums, Hans-Jochen Tschiche, keineswegs zufrieden. Der Fraktionssprecher von Bündnis 90/Grüne im Landtag von Sachsen-Anhalt sieht das Streben der Bürgerbewegungen nach einer Gesellschaft, in der sich die BürgerInnen stärker an den politischen Entscheidungen beteiligen könnten, als nur zum Teil verwirklicht. Die politische und gesellschaftliche Entwicklung verlief so, daß sich heute viele Ex-DDR-Bürger als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Der positiven 100-Tage-Bilanz der sächsisch-anhaltinischen Regierung Gies stellt Tschiche gegenüber, daß „das westdeutsche Modell völlig bedenkenlos übernommen wird, ohne die Folgen zu bedenken“. Den Politikern kreidet er „absolute Vergeßlichkeit“ an, entstammt doch gerade die CDU in ihrer Mehrheit aus der Nationalen Front. „Wenn jemand seine Geschichte nicht annimmt und aufarbeitet, sondern statt dessen in Schwarz-Weiß-Klischees denkt, so traue ich ihm nicht zu, daß er die differenzierten politischen Prozesse wahrnimmt.“

„Es gab schon einmal eine Phase, da die Zeit noch nicht reif war für Veränderungen. Wenn die Menschen hier in der Industriegesellschaft westlicher Prägung angekommen sein werden, wird sich das Bild gewiß wandeln“, so der Vertreter der Bürgerbewegung. Er befürchte aber, daß diese Veränderungen erst dann eintreten, wenn es die ersten sichtbaren Katastrophen gibt. Mit Erblast sind doch alle irgenwo beladen, meint Tschiche und nimmt sich da selbst nicht aus. Schließlich hat er sich trotz aller Kritik an der Machtausübung des alten Systems nie als antisozialistischer Mensch verstanden. Es ist jedoch ein Unding, wenn die Bevölkerung der ehemaligen DDR auf einmal nur noch aus Opfern besteht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen