: Kuckuckskleber-Mangel
■ Das Land Sachsen-Anhalt bräuchte davon allein 130 „Exemplare“
Magdeburg. Wie das Fürstentum Monacco für die Reichen, könnten die neuen Länder ein Finanzparadies für die Armen werden. Insbesondere für die, denen die Gläubiger schon bedrohlich im Nacken sitzen.
In Ostdeutschland ist ein gerichtlich verbriefter Schuldtitel derzeit nämlich nicht einmal das Papier wert, auf dem er besiegelt ist. Es gibt keine Gerichtsvollzieher, die beim Schuldner pfänden könnten.
Allein in den Gerichtstresoren Sachsen-Anhalts sollen sich nach Angaben des Justizministeriums mittlerweile 15.000 Schuldtitel stapeln. Vergebliche Versuche, Schulden aus der Vorwendezeit, aber auch schon die ersten Notleidenden-Kredite der Marktwirtschaftsära einzutreiben. Bis all diese Schulden beglichen sind, wird noch eine Menge Wasser die Elbe herabfließen. Im ganzen Sachsen-Anhalt gibt es derzeit nur 15 Gerichtsvollzieher. Und die sind mit dem Kuckuckskleben völlig überlastet. Eigentlich bräuchte das Land fast 130 Kuckuckskleber, um den Schuldenberg abbauen zu können. Und im Gegensatz zur Wirtschaftskraft in den neuen Ländern wächst dieser Berg täglich.
Nach der Wende haben viele Menschen in der Ex-DDR Kredite aufgenommen, die sie jetzt nicht zurückzahlen können. Teils, weil schlicht und ergreifend der Job weg ist, teils, weil sie von skrupellosen Kredthaien über den Tisch gezogen wurden.
Unter Honecker und Co. brauchten sich selbst notorische Schuldner keine Sorgen zu machen. Der Beruf des Gerichtsvollziehers galt im real existierenden sozialistischen System als Zeichen unmenschlichen Kapitalismus und wurde 1972 kurzerhand abgeschafft. Ein ganzer Berufsstand starb aus. „Und zwar einer, der heute dringend benötigt wird“, klagt Peter Wieden vom Landesverband der Gerichtsvollzieher. Die letzten 15 Exemplare dieses Berufsstandes haben den Verband gegründet, der bei Justizminister Walter Remmers (CDU) für schnelle Lösungen eintreten will.
Das Ministerium will jetzt die Justizsekretäre der Kreisgerichte umschulen. Aber die sind über diese neuen Berufsperspektiven nicht sonderlich begeistert. Die Bezahlung ist noch völlig ungeklärt. Und außerdem ist der Job als Kuckuckskleber bisweilen nicht ganz ungefährlich. Manch einem Schuldner könnte schon mal die Hand ausrutschen, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, meint Wieden.
Justizstaatssekretär Rainer Robiar blickt recht skeptisch in die Zukunft. „Sachsen-Anhalt könnte sich, wenn schnell etwas passiert, zu einem Eldorado für private Schuldeneintreiber mausern“, glaubt er. Und bei denen gibt es kein Existenzminimum, die pressen den Schuldnern mit rabiaten und zum Teil kriminellen Methoden die letzte Mark ab. Eberhard Löblich
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