: Berlins Arbeitsrichter stehen vor einer Klageflut
■ Die Arbeitsprozesse sind neben den ungeklärten Eigentumsverhältnissen das größte Investitionshemmnis im Ostteil von Berlin/ Denn: Wer investiert schon gerne in einen Betrieb, gegen den 2.000 Kündigungsschutzklagen anhängig sind?
Tiergarten. Die Kündigungswelle im Ostteil der Stadt fordert auch von den Berliner Arbeitsrichtern ihren Preis. Schon jetzt haben sie im Arbeitsgericht in der Lützowstraße mit einer ungeheuren Klageflut entlassener ArbeitnehmerInnen zu kämpfen. Dabei steht das Schlimmste steht erst noch bevor: Im Sommer läuft der Kündigungsschutz in der Metallindustrie und der Wartestand im öffentlichen Dienst aus.
Seit dem 3. Oktober ist das Arbeitsgericht in der Lützowstraße für beide Stadthälften zuständig. Obwohl sich die Arbeit für die 43 RichterInnen seitdem mehr als verdoppelt hat, wurden nur 20 neue Stellen bewilligt — und die sind noch nicht besetzt. Die Folge ist: Im Arbeitsgericht stapeln sich noch rund 3.600 unerledigte Ost-Akten mit Klageeingängen vor dem 3. Oktober. Hinzukommen die Neueingänge: 3.150 Klagen im Dezember und Januar aus West- und 3.300 aus Ost-Berlin. Die Tendenz ist steigend.
Laut Arbeitsgerichtsgesetz muß zwei Wochen nach Klageeingang ein Gütetermin anberaumt werden. In diesem soll der Richter versuchen, zwischen Arbeitnehmer und -geber eine gütliche Einigung zu erzielen. An diese Zweiwochenfrist ist jedoch nicht mehr zu denken. Hinzu kommt, daß es mit einem einzigen Gütetermin nicht getan ist: Die kurz vor dem Bankrott stehenden Ost-Firmen sind in der Regel nicht in der Lage, die Kündigungen mit Abfindungen für die Entlassenenen abzufedern.
Die überwiegende Anzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Ost-Berlin, die bislang mit einer Klage vor das Arbeitsgericht zogen, wurden aus sogenannten »betriebsbedingten« Gründen entlassen. Betroffen sind vor allem alleinerziehende Frauen, und Männer, die über 45 Jahre alt sind. »Die Unternehmen versuchen auf diesem Weg ganz offensichtlich, sich eine junge, leistungsstarke Mannschaft in Olympia-Reife zusammenzukündigen«, sagen die Arbeitsrichter Bernd Kließling, Reinhold Gerker und Klaus Dieter Pohl. Weil aber die Firmen nach dem Arbeitsgesetz dazu verpflichtet sind, bei den Entlassungen soziale Kriterien wie Alter, Kinder und Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen, haben die entlassenen Frauen und Männer über 45 Jahre nach Einschätzung der Richter relativ gute Chancen, den Arbeitsprozeß zu gewinnen. Vorausgesetzt, sie erheben ihre Kündigungsschutzklage innerhalb von drei Wochen.
Der Erfolg gegen die Arbeitgeber erweist sich aber oft als ein Pyrrhussieg: »Viele Firmen sind längst pleite, wenn über die Klage endlich entschieden ist. Daß ihre Kündigung unwirksam ist, nützt den Arbeitnehmern dann oft nichts mehr«, stellen Kießling, Gerken und Pohl immer wieder fest. Aufgefallen ist den Arbeitsrichtern auch, daß die entlassenen Männer im Gegensatz zu den Frauen schon lange wieder einen neuen Arbeitsplatz haben, wenn über die Klage verhandelt wird.
Nach Angaben der Richter gewinnen viele ArbeitnehmerInnen ihre Prozesse schon allein deshalb, weil den Ost-Firmen bei der Entlassung formale Fehler unterlaufen: So wird häufig die Kündigung nicht — wie erforderlich — schriftlich, sondern nur mündlich erklärt. Oft wird der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört oder die termingerechte Kündigungsfrist eingehalten. Aber auch von diesem Sieg haben die Entlassenen oft nur wenig. Entweder sind die Firmen bei Rechtskraft des Urteils schon bankrott oder haben die Arbeitsplätze bereits anderweitig besetzt.
Neben den ungeklärten Eigentumsverhältnissen sind die Arbeitsprozesse, nach Einschätzung der Richter Kießling, Gerken und Pohl das größte Investitionshemmnis im Osten. Denn: »Welcher Unternehmer übernimmt schon gern einen konkursreifen Betrieb mit zweihundert Angstellten, wenn im Hintergrund noch 2.000 Kündigungschutzklagen lauern? Wenn diese Prozesse gewonnen werden, kommen auf den potentiellen Investor Millionenkosten für die Weiterzahlung der Gehälter und die Weiterbeschäftigung zu. Außerdem müßte er dem Arbeitsamt das verauslagte Arbeitslosengeld zurückzahlen.«
Die Prognose der Arbeitsrichter ist daher düster. »Das einzige, was wir tun können«, so Gerken, »sind die Kündigungen zu überprüfen und mit rechtsstaatlichen Mitteln versuchen, die Anpassungsprozesse zu begleiten und die gröbsten Schnitzer korrigieren. Aber wir können keinen einzigen neuen Arbeitsplatz schaffen«, stellt der Richter bedauernd fest. Trotz der Klageflut geht es den Berliner Arbeitsrichtern im Vergleich zu ihren Kollegen in den neuen fünf Bundesländern noch sehr gut. Dort ist das Arbeitsrecht faktisch außer Kraft gesetzt: In Erfurt zum Bespiel wird mit einer Zeitspanne von anderthalb Jahren bis zum ersten Gütetermin gerechnet. Plutonia Plarre
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