Drachen im Aufwind

■ Immer mehr Drachenfreunde bauen selbst / Besuch beim Drachenschwärmer

Wild flattern die roten Schwänze des Windspiels draußen vor der Tür. Drinnen surrt die Nähmaschine über den raschelnden Nylonstoff: Holger Flügge sitzt an einem Spezialdrachen. Für Werbezwecke hat eine Firma den 32 Quadratmeter großen Flächendrachen in Auftrag gegeben. Die 8 Meter langen Stangen aus Kohlefaser für den Werbedrachen sind spezialangefertigt und kosten allein schon zweieinhalbtausend Mark. Ein Team von fünf bis sechs Leuten müßte den Drachen in die Luft bringen — einer allein wäre ihm gegenüber machtlos.

Vor zwei Jahren ist Holger Flügge, der gelernte Bildhauer, professionell auf sein Hobby um- und in den Drachenbau eingestiegen. Seitdem ist der „Drachenschwärmer“, sein Lädchen in der Neustadt, zu einem Treffpunkt für Drachenfreunde und Selbstbauer geworden. Der Golfkrieg hat dem Drachenschwärmer allerdings schlagartig eine Flaute verschafft: „Die Leute halten sich mit Investitionen in die Freizeit zurück“, meint Flügge. Viele hätten seit Kriegsbeginn auch weder Sinn dafür noch die Geduld, um sich an die Nähmaschine zu setzen, beschreibt Flügge Eindrücke der vergangenen Wochen.

Sonst lassen sich durch den Drachenbau überraschend viele Männer an die Nähmaschine bringen: „Nähen gehört für sie dazu und bekommt dann auch einen ganz anderen Stellenwert - von wegen Hausarbeit“, erzählt Maria Meyer, die Frau im Drachenschwärmer-Team. Sie schätzt das Verhältnis Männer-Frauen in ihrer Kundschaft auf 80:20. Rund ein Viertel der Kunden sind Windsurfer, die bei Flauten ihren Drachen auspacken.

Den bunten Nylon-Fliegern reicht schon der kaum wahrnehmbare Luftzug der Windstärke 1 zum nötigen Auftrieb. Mit den knisternden Drachen aus Holzlatten und Transparentpapier von einst haben sie allerdings kaum noch Gemeinsamkeiten. Selbst die Kinderdrachen sind ihnen weit überlegen. Die professionellen Flieger der Jetztzeit, aus Spinnaker-Nylon und mit Glas- oder Kohlefasergestänge, erreichen spielend ihre 100 Stundenkilometer. „Einer will auch schon 250 km/h gemessen haben“, erzählt der Bremer Ladenbesitzer, glaubt dies aber nicht. Die Clubs messen die Leistungsstärke ihrer Drachen mit Radarpistolen. Manche entwickeln Kräfte, mit denen sie Erwachsene spielend von den Füßen heben.

Die Spezialität des Bremer Drachenbauers sind Fluggeräte, die besonders schnell und präzise sind. Sie haben auch in stärkerem Wind eine gleichbleibende Stabilität und verformen sich nicht.Auch bei Abstürzen können sie kaum noch kaputtgehen. Dann klappt unter den auftretenden Kräften zum Beispiel ein Klettverschluß auf, sodaß die Längsstange von der plötzlichen Spannung entlastet wird — Weiterentwicklungen, bei denen die Serienproduktion der Kaufhausdrachen auf der Strecke bleibt. Qualitätsarbeit ist Holgers oberstes Prinzip: saubere Nähte, Verstärkungen an den Kanten und solide Bauteile, die bis hin zur kleinsten Öse auch einzeln nachbestellt werden können. Holger Flügge setzt auf die Beratung seiner KundInnen, auch derer, die in seinen Kursen oder autodidaktisch die Drachen selbstbauen. „Natürlich ist es spannend, ob der Drachen dann auch fliegt. Aber das Bauen selbst hat so etwas Kreatives, daß diese Frage oft nebensächlich wird.“ Viele Fehler beim Selbstbau würden schon beim Zuschneiden gemacht. Besonders schwer ist es auch, für Lenkdrachen die Schnüre richtig zu befestigen, sie „in die Waage zu bringen“: Sie entscheiden über den Auftrieb oder ob der Drachen gleich wieder abstürzt.

Die Aerodynamik der verschiedenen Drachenarten ist zum Teil noch unerforscht. Manchen funktionieren in ihrem Aufbau wie kleine Flugzeuge. Die fliegenden Luftmatratzen aber zum Beispiel (“Flexifoils“), die aus einzelnen, nebeneinanderliegenden Luftkammern bestehen, entsprechen eher dem umgekehrten Profil einer Tragfläche. Um seine Flugfähigkeit zu errechnen, wurde der MBB-Computer spaßeshalber mit seinen Daten gefüttert: Der Computer war überfordert. Er stieg aus. ra