: O seyd mir sehnsuchtsvoll geküßt
■ Uraufgeführt: Die unechten (“apokryphen“) Bachkantaten BWV 217 — 222
Mehr als 200 Jahre nach dem Tod Johann Sebastian Bachs sind noch längst nicht alle Fragen nach der Urheberschaft der im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) registrierten Kompositionen beantwortet. Zur genauen Bestimmung fehlen Autographe. Abschriften ohne Komponistenangabe führen häufig in die Irre.
Eine Aufführung der apokryphen Kantaten (BWV 217 — 222) mit dem Alsfelder Vokalensemble, dem Steintor Barock und vier SolistInnen unter der Leitung von Wolfgang Helbich konnte jetzt ein wenig Licht im musikhistorischen Dunkel zeigen. Keine dieser Kantaten ist von Bach komponiert worden. Zwei oder drei sind von Telemann, eine wird Bachs Patensohn Johann Ernst Bach zugeschrieben. Zwei Kantaten konnten noch keinem Komponisten zugeordnet werden.
Allen Beteiligten ist es am Donnerstag im Sendesaal von Radio Bremen gelungen, ein rein auf Forschungsergebnissen basierendes Konzertprogramm mit Leben zu erfüllen. Ein großes Lob angesichts der Tatsache, daß im ersten Teil des Programms die formale Anlage der Kantaten sehr ähnlich war. Doch konnte deren Ähnlichkeit, weil gut musiziert wurde, mit Genuß als differenziert wahrgenommen werden.
Aufregendes kam im zweiten Teil. Die bislang unveröffentlichte, Johann Ernst Bach zugeschriebene Kantate „Mein Odem ist schwach“ ist mehr als nur eine Repertoire-Ergänzung. Ein Werk, in dem die erotische Todessehnsucht protestantischer Prägung mit überraschenden musikalischen Mitteln zum Ausdruck kommt. „O seyd mir sehnsuchtsvoll geküßt, Seufzer meiner letzten Stunden...“
Das Alsfelder Vokalensemble sang mit ausgewogener Klangbalance und ohne Pathos bei den Chorälen. Mit Leichtigkeit meisterte es auch schwierige Diminutionen. Mit einer durchgängig zügigen Interpretation zeigte sich Chorleiter Helbich eher dem heutigen Geschmack als einer expressiven Affektgestaltung verpflichtet. Das kam den Chorälen zugute.
Andererseits nutzt sich die Leichtigkeit des Chores auf Dauer etwas ab. Dabei ist der Chor so gut, daß eine Textausdeutung mit mehr Ecken und Kanten möglich wäre. Das Ensemble Steintor Barock spielte, von kleinen Fehlern abgesehen, sehr sicher und rund. Auch hier ist etwas mehr Mut zu expressiver Gestaltung zu wünschen. Unter den durchweg guten SolistInnen ragten zwei heraus: Johanna Koslowsky mit klarem, ausdrucksvollem Sopran und der Altus Kai Wessel mit großem Talent für subtile Erotik. Andreas Lieberg
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