: Deutsche Wohnzimmergerechtigkeit
■ Shakespeares »Die Komödie der Irrungen« in der Volksbühne
Man weiß bereits nach dem ersten Vers des ersten Monologs, daß es nichts werden wird. Nachdem der Schiffbrüchige die ersten Zeilen in strengem Gleichmaß abgesungen hat und immer am Zeilenende brav mit der Stimme nach unten gegangen ist, weiß man, das Stück wird nicht mehr nach oben kommen, es hat schon Schiffbruch erlitten — dabei ist das quer gespannte rote Segel im Anfangsbild schön. Der Schiffbrüchige betet den Hergang des Schiffbruchs herunter, der die Voraussetzung für dieses erste Shakespearsche Lustspiel — ein von Plautus übernommenes Motiv — abgibt: Er hat seine Frau und seine Zwillingssöhne auf hoher See im Sturm verloren, wird selbst in Ephesus an den Strand gespült. Der Herzog verheißt ihm für seine glückliche Rettung den Galgen: Alles mittellose Fremde wird in Ephesus strickmäßig hinwegasyliert.
Man ahnt, was shakespeareologisch folgen muß: Die Restfamilie befindet sich ebenfalls auf der Insel, läuft sich aber nie über den Weg, nur ständig hinterher auf den Brettern, Bruder begegnet nie Bruder, sie werden dafür immer als identisch verkannt, die Frau ist aus Kummer Äbtissin geworden, der Mann sucht einen Reichen, der ihn gegen gutes Geld asylwürdig macht. Die Zwillingsbrüder, gleicher als ein Ei dem anderen, sind mit ihren Dienern, die ebenfalls Zwillinge sind, die Eckpfosten der sich immer enger spannenden Verwicklung: im klassisch- schönen Doppelgängermotiv.
Da der Schiffbruch nach Shakespearschem Zeitmaß plötzlich mehrere Jahre zurückliegen kann, ist nämlich der eine Sohn, Antipholus von Ephesus, ein griesgrämiger Ehemann, während der zweite Sohn, Antipholus von Syrakus (seltsam, daß Zwillinge auch noch die gleichen Namen tragen), ein weicher, fast weinerlicher Zugereister ist, der sich bald auf Freiersfüßen befindet. Da beide von Reiner Heise eher schlecht als recht gespielt werden, sieht der eine immer ziemlich genau wie der andere aus — dennoch findet sich das Ganze zu seiner verkennungsgerechten Verwicklung: Wo der eine seinem Eheweib und ihrer Schwester davonläuft, gefällt sich der andere in deren Gesellschaft und legt sich direkter mit der Schwester an (neben das Wasserbassin). Wo der eine eine Goldkette erhält, will der andere nicht zahlen. Wo der eine sich über solche Großzügigkeit für nichts wundert, wird der andere für nichts ins Gefängnis gesteckt — das Geld, das ihn freikaufen soll, geht wiederum an den ersten, der sich freut, daß er zur Goldkette auch noch Dukaten erhält. Die Verwirrung wird dadurch noch schöner, daß der Doppeldiener (Florian Martens) auch noch seinen Herrn verkennt: Dem Herrn, der einen Strick erwartet, bringt er Geld, dem anderen, der eine Schiffsbuchung benötigt, besagten Strick. Wahnsinn, Wahnsinn, ist die Erklärung, wo keiner den anderen mehr versteht — bis der Schiffbrüchige zu einem brüchigen Gnadengestammel findet, kurz bevor ihm der Strick um den Hals gelegt wird.
Die Äbtissin erkennt in ihm gerade noch rechtzeitig ihren Mann, nachdem der Sohn in ihm nicht seinen Vater wiedererkannt hat, während sie beide plötzlich ihre gleichförmigen Söhne erkennen und in einer kegelförmig ausgeleuchteten Umarmung die Verirrung sich in Richtung Glück rückwärts spult.
Großartig, könnte man meinen, nur nicht auf den Volksbühne-Brettern, wo man keine Lust an der Wiederholung und keinen Raum für die kleine Differenz aufbringt. Dafür gibt man sich diesmal ganz volksnah, so volksnah, daß man »Hütchenspieler, Hausbesetzer und Drogenhändler« in den Stücktext eindichtet.
Der FNL-Mann fühlt sich zu Hause, er bekundet es durch heftiges Klatschen, am lautesten lacht er, als die Äbtissin vom giftigen Biß eifersüchtiger Frauen spricht. Shakespeare auf deutsche Wohnzimmergerechtigkeit heruntergezogen, da kommt ein Volksstückchen, das mehr Licht aufs Volk als auf Shakespeare wirft, heraus.
Da ist das Meer ein immer unbewegtes Staniolpapier mit ein paar aufgeworfenen Kringeln, da wird ein mit Bettlaken bespanntes Gestell hin und her bewegt, erstellt keinen Raum, aber erzwingt hektische Umbauaktionen, da steigt unheilverkündender Bodennebel auf, die Dampfmaschine steht auch noch auf der Bühne, als der Vorhang beiseite geht. Der alleinzige Gag ist der Springbrunnenstrahl aus einem in den Boden eingelassenen Wasserbecken, der bezeichnenderweise dann aufsteigt, als Antipholus II. auf Luciana I. liegt. Wie Staniolpapier und Bodennebel sind die Personen aus der Klischeekiste gegriffen, dürfen nur Stöckchen fuchtelnd und kreischend übereinander herfallen, sind so dünn und körperlos wie die Bettlakenwand — ein grausiges Boulevardstück mit dem Softpornocharme von Beate Uhse und der Tiefenschärfe eines Videos wird hier gezeigt. In anderthalb Stunden ist alles abgewickelt — da retten auch die Live-Musik und der gute Einfall, die mehrmalige Wiederholung einer einzelnen Szene, die definitive Inszenierungsverirrung, nicht mehr. Michaela Ott
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