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Vergessene Opfer des Dritten Reiches

■ „Euthanasie“-Opfer hatten nach dem Krieg einen schwereren Weg als andere Zeitgenossen

Dem Programm der Nationalsozialisten zur Beseitigung vermeintlicher Erbkrankheiten und zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ fielen zahlreiche Menschen zum Opfer: Etwa 400.000 Personen wurden zwangssterilisiert und 300.000 im Rahmen des „Euthanasie“-Programmes ermordet.

In Deutschland hatte man sich seit der Jahrhundertwende mit der Sterilisation beschäftigt. Bis 1933 fiel aber keine gesetzliche Entscheidung, weil gewissenhafte Beratungen andauerten. In der ganzen Welt gab es zu dieser Zeit einzelne Sterilisationsgesetze, nur in ganz seltenen Fällen wurde dafür Zwang angeordnet. Im Juli 1933 verabschiedeten die Nazis dann das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ als Grundlage massenhafter Zwangsmaßnahmen.

Die Überlebenden der Sterilisationen und die Hinterbliebenen der „Euthanasie“-Opfer hatten nach dem Krieg einen schwereren Weg als andere Zeitgenossen. Nach dem Erbgesundheitsgesetz war es beispielsweise Zwangssterilisierten nicht möglich, eine weiterbildende Schule zu besuchen. Vielen waren dadurch bestimmte Berufswege versperrt. Die Folgen minderer Qualifikation zeichnen sich noch heute in den Renten ab.

Die Diskriminierung durch die Umwelt hat viele Menschen aus diesem Kreis in die Isolation gebracht, sie können bis heute nicht über ihre schrecklichen Erlebnisse reden. Im Alter kommt es neben den körperlichen und materiellen Schäden oft zu schweren Depressionen. Es ist keine Seltenheit, daß die Betroffenen das letzte Mitglied einer ausgerotteten Familie sind.

Die DDR hat Zeit ihres Bestehens diese Menschen nicht als Opfer des Faschismus anerkannt, die BRD bis 1988 nicht. Unter den Opfern des NS-Regimes wurde nach dem Krieg auf dieselbe fatale Weise zwischen „wert“ und „unwert“ unterschieden wie vor 1945.

Seit 1988 gibt es in der Bundesrepublik für die Zwangssterilisierten einen Härteausgleich von 5.000 DM, wenn die Sterilisation glaubhaft gemacht wird durch Beschlüsse aus der alten Zeit, Zeitzeugen, Unterlagen der Krankenhäuser oder ärztliche Bescheinigung. In der BRD wurden im Dezember 1987 300 Millionen DM für den Härteausgleich zur Verfügung gestellt. Zwangssterilisierte erhielten bei einer Notlage und dem Nachweis eines Gesundheitsschadens auf Antrag Beihilfen. Seit 1990 gibt es den einmaligen Härteausgleich von 5.000 DM auch für Personen, die vor Erreichen der Volljährigkeit einen Elternteil durch die „Euthanasie“ verloren haben.

Von den bereitgestellten Mitteln kamen 1988 nur 5,6 Millionen DM zur Auszahlung, 1989 nur 4,4 Millionen DM, sie sind also noch nicht ausgeschöpft. Bürger der neuen Bundesländer können seit dem 19. 12. 1990 den Antrag auf Auszahlung der 5.000 DM aus der Härteregelung stellen (Überleitungs-Anordnung v. 13. 12. 1990, Bundesanzeiger Nr. 235 v. 19. 12. 1990, S. 6659).

In der Bundesrepublik besteht seit 1987 der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, abgekürzt BEZ, Schorenstraße 12, W-4930 Detmold. Der Bund hat seit der Gründung einige Verbesserungen für die „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten bei der Bundesregierung erreicht. Allen betroffenen Personen ist zu empfehlen, sich dort zu melden, um nähere Hinweise zu erhalten.

In der alten Bundesrepublik hat diese Organisation Gesprächskreise in größeren Städten, wo sich Betroffene regelmäßig begegnen. Es wäre schön, wenn es solche Gesprächskreise und Selbsthilfegruppen auch in den neuen Bundesländern geben könnte, damit der Gedankenaustausch stattfindet und die Isolation überbrückt wird.

Seit Jahren befaßt sich ein größerer Kreis von zumeist jüngeren Ärzten, Psychologen und Historikern aus Ost- und Westdeutschland damit, das Geschehen aufzuarbeiten. Es gibt trotz des langen Zeitabstandes noch reichlich Wissenslücken, vor allem, was die Sicht und das Schicksal der Betroffenen angeht. Diese Mitteilungen sind uns wichtig. In zahlreichen Ländern gibt es zunehmend Diskussionen mit dem Ziel, Sterilisationsprogramme und „Euthanasie“ wieder hoffähig zu machen. Dem ist nicht nur mit Theorie zu begegnen, sondern auch mit der Kenntnis dessen, was die Betroffenen erlebten, deren Mitarbeit wichtig ist. Dr. med. Folkert Schröder

Hauptstraße 56, O-1800 Brandenburg/H

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